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Lieferengpässe wegen Ukraine-Krieg Explodierende Getreidepreise: Die Ukraine kämpft gegen Invasoren, die Welt gegen Hunger

Eine ägyptische Bäuerin trägt ein Bündel Weizen auf einem Feld
Eine ägyptische Bäuerin trägt ein Bündel Weizen auf einem Feld. Der nordafrikanische Staat bezog 2020 82 Prozent seines Weizens aus Russland und der Ukraine
© Amr Nabil / AP / DPA
Russland und die Ukraine gelten als die Kornkammern der Welt. Doch nun droht fernab des Kriegsgeschehens die Hungersnot. Grund dafür ist ein wirtschaftlicher Dominoeffekt, der die Welt vor eine humanitäre Katastrophe stellt.

Eine weltweite Hungerkrise bahnt sich an – wenn sie nicht bereits längst da ist. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine stellt zahlreiche Entwicklungsländer, vor allem in Afrika, vor massive Lieferengpässe, insbesondere von Getreide. Die Einfuhrpreise, so das Statistische Bundesamt, haben ein Zehn-Jahres-Hoch erreicht.

Weltbankpräsident David Malpass warnte bereits Ende April gegenüber der britischen BBC vor einer sich anbahnenden "menschlichen Katastrophe". Man rechne mit Preisanstiegen bei Lebensmitteln von 37 Prozent. Inzwischen leiden 800 Millionen Menschen unter Hunger, mahnt auch Welthungerhilfe-Vizepolitikchef Rafael Schneider in der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Die Organisation sagte diese Woche voraus, dass sich die jetzt schon bedrohliche Lage in naher Zukunft "drastisch" verschlimmern werde.

Russland und die Ukraine gehören zu den weltweit größten Exporteuren von Weizenprodukten und decken zusammen fast ein Drittel des globalen Bedarfs ab. Vor Kriegsbeginn, so berichtet das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, wurde ein Großteil des in der ukrainische angebauten Weizens – genug, um 400 Millionen Menschen zu ernähren – über sieben Häfen am Schwarzen Meer verschifft. Inzwischen stauen sich 25 Millionen Tonnen Getreide in den von der russischen Marine blockierten Häfen. "Im Moment sind die Getreidesilos der Ukraine voll. Gleichzeitig sind 44 Millionen Menschen auf der ganzen Welt auf dem Weg in den Hungertod", erklärt Exekutivdirektor David Beasley. Sollten die Lager nicht bald geleert werden, könnten in der nächsten Erntesaison die Lagerkapazitäten nicht ausreichen.

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Bildquelle: Picture Alliance/Michael Bihlmayer

Abhängigkeit von Russland

Insbesondere (aber nicht nur) der afrikanische Kontinent, allen voran der Norden, ist schlicht abhängig von russischem und ukrainischem Getreide. Daten der UN-Handels- und Entwicklungskonferenz zufolge, importieren Länder wie Ägypten und der Sudan 2020 mehr als drei Viertel, Somalia und Benin gar 100 Prozent ihres Weizens von den beiden Konfliktparteien. Circa 20 Millionen Menschen in der Sahelzone und in Westafrika hatten bereits Mitte April keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln mehr. Der Umstieg auf Eigenproduktion ist dabei keine echte Alternative, zumal Russland laut UN-Angaben der größte Exporteur von Düngemitteln ist.

Diese Abhängigkeit erklärt auch, warum sich fast die Hälfte der afrikanischen Nationen bisher nicht gegen die russische Invasion ausgesprochen hat (lesen Sie hier die Hintergründe). Einen derart wichtigen Handelspartner auf internationaler Bühne zu brüskieren, kommt für die afrikanischen Abnehmer aus rein existentiellen Gründen nicht in Frage.

Nicht nur in Afrika leiden die Menschen infolge der russischen Aggressionen unter Hunger. Auch in Ländern wie Syrien, dem Jemen oder Afghanistan, die sich bereits vor Kriegsbeginn am Rande oder inmitten einer humanitären Katastrophe befanden, verschärft sich die Lage zusehends.

Aus Furcht, ihren Eigenbedarf nicht mehr decken zu können, schränken einige Staaten, wie etwa Marokko, ihre Lebensmittelexporte ein, berichtet die US-Denkfabrik "Council on Foreign Relations". Dies wiederum treibt die Markpreise für bestimmte Produkte in die Höhe: So wurde Medienberichten zufolge Anfang des Monats Pflanzenöl teurer, weil die indonesische Regierung einen Ausfuhrstopp für Palmöl erlassen hatte.

Globalisierter Handel: ein zartes Pflänzchen  

Während die Getreidepreise explodieren, rechnet der Kreml in diesem Jahr mit einer Rekordernte. "Nach Einschätzung von Spezialisten – das sind natürlich nur vorläufige Schätzungen – könnte sich die Getreideernte auf 130 Millionen Tonnen belaufen, darunter 87 Millionen Tonnen Weizen", sagte der Russlands Präsident Wladimir Putin am Donnerstag bei einer Regierungssitzung. 

Angesichts der Blockade der ukrainischen Weizenausfuhr macht sich der Aggressor damit trotz massiver Sanktionen unverzichtbar für die Welternährung. Putin setze Hunger als Waffe ein, meint Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir gegenüber dem Deutschlandfunk. Die Verknappung und die Erhöhung der Preise seien nichts anderes als eine bewusste Kriegsstrategie.

Die Kettenreaktionen, die ein Krieg in Europa für Menschen in Tausenden Kilometern Entfernung auslöst, zeigen deutlich: Der globale Getreidemarkt ist ein zartes Pflänzchen. Für mehr als 85 Prozent der weltweiten Weizenexporte, so berichtet das australische Nachrichtennetzwerk "The Conversation", sind sieben Länder verantwortlich. Bei Mais sei der Markt noch konzentrierter: Hier stillen nur vier Länder (USA, Argentinien, Brasilien und die Ukraine) den weltweiten Bedarf. Bricht ein Akteur weg, sei nicht nur der Gütermangel an sich ein Problem, sondern auch die längeren Transportwege für die Alternativlieferanten. Das wiederum treibt die Kosten für Treibstoff in die Höhe – die wegen der Sanktionen gegen das Regime Putin ohnehin schon explodiert sind. Kurzum: ein Dominoeffekt.  

Eine ungerechte Krise

Bisherige Lösungsansätze wirken halbgar. Nach einem Aktionsplan der EU-Kommission soll über sogenannte Solidaritätsspuren Getreide aus und Hilfsgüter in die Ukraine gebracht werden. Das dürfte allein schon deshalb schwierig werden, weil ukrainische Bahnschienen nicht mit westeuropäischen kompatibel seien und die meisten Waren umgeladen werden müssten. Für das Umladen wiederum gebe es nicht ausreichend Anlagen.

Am Ende sind die Staaten, die die Lieferengpässe am stärksten betreffen, somit oft diejenigen, die sie am wenigsten zu verantworten haben. Ohnehin hat die Coronapandemie viele Entwicklungsländern an den Rand des Ruins getrieben. Um ihren Nahrungsbedarf zu decken, schlittern sie nun tief in eine Schuldenspirale. "Bis zu 60 Prozent der ärmsten Länder sind derzeit entweder verschuldet oder hochgradig gefährdet, in eine Schuldenkrise zu geraten", sagt Weltbankpräsident David Malpass der BBC.

Hinzukäme, dass die Währungen vieler Entwicklungsländer infolge der Coronakrise an Wert verloren hätten – der US-Dollar auf der anderen Seite aber zur Zeit sehr stark sei, zitiert ABC-News Martin Frick vom Welternährungsprogramm. Nun wird Getreide auf den internationalen Märkten in Dollar gehandelt und somit für ärmere Staaten umso unerschwinglicher. Alles in allem lautet Fricks bitteres Resümee: "Ich würde sagen, dass wir seit dem Zweiten Weltkrieg keine so ernste humanitäre Situation mehr erlebt haben wie die derzeitige.“

Quellen: "The Conversation"; BBC; ABC News; Welternährungsprogramm; mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und dpa

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