Anfang März, kurz nach Kriegsausbruch, verurteilten 141 von 193 UN-Mitgliedsstaaten den russischen Angriff auf die benachbarte Ukraine und forderten die Entscheidungsträger im Kreml zum sofortigen Truppenrückzug auf. Fast die Hälfte der afrikanischen Mitglieder zögerte.
Von den 54 afrikanischen Teilnehmern enthielten sich 17 (darunter Algerien, Mali und Südafrika), acht stimmten gar nicht erst ab (wie etwa Äthiopien, Kamerun und Burkina Faso), Eritrea sprach sich sogar gegen die Resolution aus – zusammen mit Nordkorea, Belarus, Syrien und Russland selbst.
Das laute Zögern macht eines deutlich: Im Gegensatz zur EU, die sich in lang vermisster Einigkeit hinter die Ukraine stellte, ist die Afrikanische Union gespalten. Was diese Nationen davon abhielt, Putins Invasion zu verurteilen? Eine Mischung aus wirtschaftlicher Abhängigkeit, totalitärer Machtpolitik und historischer Skepsis gegenüber dem Westen.
Skepsis gegenüber dem Westen: die Nachwehen des Kalten Kriegs
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Verhältnis zwischen Russland und Afrika nicht mehr so innig. Da wundert es wenig, dass viele afrikanische Staatsführer zumindest einmal vorsichtig sind, wenn es darum geht, sich auf eine Seite zu schlagen. Denn mit klaren Bekenntnissen zu Ost oder West ist der Kontinent selten gut gefahren. Zu Zeiten des Kalten Kriegs sahen sich viele eben erst unabhängig gewordene Staaten gezwungen, sich zwischen den Weltmächten und -ideologien zu entscheiden – die Folge waren häufig erbitterte Bürgerkriege.
Mit dem Westen, so der Thinktank "Observer Research Foundation", verbanden viele junge afrikanische Staaten Kolonialismus und Rassismus. Die Sowjetunion inszenierte sich zu dieser Zeit hingegen als helfende Hand. Diese Rollenverteilung blieb in vielen Köpfen fest verankert. Noch heute, so der britische "Guardian", werden viele afrikanische Nationen von denselben Parteien regiert, die zu Zeiten der Befreiungskriege von Moskau unterstützt wurden.
Einige afrikanische Nationen sehen in den Kämpfen in der Ukraine zudem einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA, in den sie sich nicht hineinziehen lassen wollen, schreibt der US-Nachrichtensender CNN. Aus Angst davor wie bereits in der Vergangenheit zwischen die Fronten zu geraten, enthalten sich deswegen viele Länder diesmal. Hinzukäme, dass einige afrikanische Staaten der Nato die Schuld am russischen Einmarsch geben. Das Militärbündnis habe den Kreml über Jahre immer weiter in die Enge getrieben – bis Putin am Ende gar keine andere Wahl gehabt habe, als die russischen Sicherheitsinteressen militärisch zu verteidigen. "Der Krieg hätte vermieden werden können, wenn die Nato im Laufe der Jahre die Warnungen aus den eigenen Reihen beherzigt hätte, dass ihre Osterweiterung zu mehr und nicht zu weniger Instabilität in der Region führen würde", sagte der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa im März.
Einige afrikanische UN-Mitglieder fühlten sich auch, so das australische Nachrichtennetzwerk "Conversation", an die aus ihrer Sicht unrechtmäßige Absetzung des libyschen Präsidenten al-Gaddafi durch die Nato erinnert. Dessen Sturz hatte zu einer massiven Destabilisierung Nordafrikas und der Sahelzone geführt. Dies hätte zur Folge gehabt, "dass viele Länder die westliche Dominanz fürchten und glauben, dass wir einen globalen Gegenpol brauchen [...] Russland wird in dieser Hinsicht als Vertreter der ehemaligen Sowjetunion gesehen", meint Priyal Singh, Forscher am Institut für strategische Studien in Pretoria gegenüber dem britischen "Guardian".
Und da wäre (natürlich) auch noch China. Im Rahmen seiner "Neuen Seidenstraße" hat Peking in den vergangenen Jahren Milliarden in Afrikas Infrastruktur und Wirtschaft gepumpt. Weil es China als Russlands wichtigster Verbündeter weiterhin partout vermeidet, Putins Invasion zu verurteilen, sehen sich auch zahlreiche afrikanische Nation genötigt, der Linie des ausländischen Geldgebers zu folgen. Gegen Pekings locker sitzende Brieftasche verblassen die russischen Investitionen in Afrika. Gut möglich also, dass die Furcht, den Geldstrom aus Fernost auszutrocknen, einer der Hauptgründe für die Nichteinmischung vieler afrikanischer Nationen ist.
Frieden in Afrika ist für Russland geschäftsschädigend
Nichtsdestotrotz hat sich Russland in den vergangenen Jahren massiven Einfluss auf dem Kontinent erkauft. Wie CNBC unter Berufung auf Zahlen des Stockholm International Peace Research Institute berichtet, soll Russland zwischen 2016 und 2020 fast ein Fünftel seiner gesamten Waffenproduktion an afrikanische Abnehmer verkauft haben. Der Kreml tausche im Wesentlichen Waffen, Technologien und Investitionen gegen Ressourcen und Einfluss, resümiert die "Observer Research Foundation".
Doch liefert der Kreml nicht nur die Gewehre, sondern indirekt auch die Männer, die abdrücken. Noch im Januar, so berichtet der US-Auslandssender "Voice of America", wehten nach dem Militärputsch in Burkina Faso russische Flaggen über der Hauptstadt Ouagadougou. Ähnliche Szenen waren im Vorjahresherbst in der Zentralafrikanischen Republik zu beobachten, als eine Statue enthüllt wurde, die einheimische Kämper Seite an Seite mit der berüchtigten russischen Söldnertruppe Gruppe Wagner zeigten. Auch der vor allem in der Sahelzone erstarkte militante Islamismus habe Russland als Chance genutzt, sein militärisches Engagement durch private Söldnerunternehmen zu erhöhen, so der US-Auslandssender.

Das Bild, dass der Kreml zeichnet ist klar: Wenn der Westen euch im Stich lässt, sind wir für euch da. Das Paradoxe, so fasst es das US-amerikanische "Time"-Magazin zusammen, ist die Rolle Moskaus als Mehrzweckverbündeter. Durch den lukrativen Einsatz privater Militärunternehmen trägt der Kreml zur Instabilität auf dem Kontinent bei. Diese Unbeständigkeit wiederum bindet die in der Regel totalitären Regierungen an Moskau und eröffnet dem Regime Putin immer neue Investitionsmöglichkeiten. Kurzum: Frieden in Afrika ist für Russland geschäftsschädigend.
Als Resultat haben zahlreiche Afrikanische Staaten in den vergangenen zehn Jahren umfangreiche Militärbündnisse mit Moskau geschlossen. Auf dem ersten Russland-Afrika-Gipfel 2019, bei dem alle 54 afrikanischen Staaten teilnahmen, bescheinigte Kremlchef Putin dem Kontinent die außenpolitische Priorität. "Wir werden uns nicht an einer neuen 'Neuaufteilung' des Reichtums des Kontinents beteiligen", sagte er damals. Im Gegensatz zum Westen sei man bereit, sich "auf einen Wettbewerb um die Zusammenarbeit mit Afrika einzulassen." Bei dem Treffen im Kurort Sotschi sollen neben diplomatischen auch milliardenschwere Energie-, Finanz- und eben Waffendeals vereinbart worden sein. Der zweite Gipfel war ursprünglich für Herbst dieses Jahres geplant.
Vor allem die totalitären Regime in Afrika wollen sich Moskau langfristig als innenpolitischen letzten Ausweg warmhalten, um etwaige Aufstände zu unterdrücken, erklärt Remi Adekoya, Dozent an der englischen University of York, gegenüber CNN. Diese Machthaber hätten gesehen "wie Putin Assad in Syrien an der Macht gehalten hat, denn ohne Russlands Eingreifen wäre das Assad-Regime schon längst gestürzt worden."
Russisches Weizen: lebenswichtiger Handel
Russische Energiekonzerne sind vor allem in Westafrika zu wichtigen Industriemotoren geworden, so die US-Bundesbehörde United States Institute of Peace (USIP). Die massiven Sanktionen des Westens, befürchten mineralreiche Länder wie Kamerun, Nigeria oder die Demokratische Republik Kongo, könnten Moskau zu einem Investitionsstopp bewegen.
Ausbleibendes Wachstum mag die eine Sache sein. Hunger ist eine ganz andere. Zahlreiche afrikanische Staaten sind auf russisches Weizen angewiesen. Viele von ihnen beziehen weit mehr als die Hälfte ihrer Weizenimporte aus Russland; Eritrea, Somalia und Ägypten sogar mehr als 75 Prozent. In einem Interview mit Al Jazeera warnte der Präsident der Afrikanischen Entwicklungsbank, Akinwumi Adesina, dass der Krieg und steigende Inflation zu einer Nahrungsmittelkrise führen könnten.
Einen derart wichtigen Handelspartner zu brüskieren, kommt für viele afrikanische Regierungen folglich aus rein existenziellen Gründen nicht in Frage. Nach Kriegsbeginn sind die Preise für Mais, Weizen und Soja enorm in die Höhe geschossen, heißt es in einem Beitrag des USIP. Circa 20 Millionen Menschen in der Sahelzone und in Westafrika hätten (Stand Mitte April) inzwischen keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln mehr.
Das Hochfahren der Eigenproduktion ist da – zumindest kurzfristig – keine Alternative. Denn UN-Angaben zufolge ist Russland einer der weltweit größte Düngemittelexporteure.
Westen trägt Mitschuld an Afrikas Spaltung
Viele afrikanische Nationen (und Machthaber) folgen mit ihrer Neutralität im Ukraine-Krieg schlichtweg ihrem Selbsterhaltungstrieb. Dass sich der Kontinent nicht geschlossen gegen Moskau stellt, hat sich der Westen nicht zuletzt selbst zuzuschreiben. Jahrzehntelang haben die USA und Europa Afrika im besten Fall stiefmütterlich behandelt und es versäumt, dem Kontinent durch gleichberechtigte Partnerschaft eine langfristige Perspektive zu geben.
Dass Russland und China die Arme öffnen würden, war abzusehen. Der Preis, den Afrika für die "Hilfe" des Bündnisses Ost-Fernost auf lange Sicht bezahlt, ist immens. So findet der reich geborene, in Armut lebende Kontinent nicht aus seiner Rolle als Spielball der Großmächte heraus. Die Folge ist eine Spaltung, die weit über die Grenzen Afrikas hinausgeht – und die sich der Westen auf lange Sicht nicht leisten kann.
Weitere Quellen: "The Conversation"; "Voice of America"; "Washington Post"; "The Guardian"; CNN; "Observer Research Foundation"; United States Institute of Peace