Donbass-Offensive Kampf um Sjewjerodonezk – wie der russische Fleischwolf gestoppt werden kann

Die Stadt Bachmut ist der Schlüsselpunkt für eine weitere Zangenoperation. Sie wird bereits systematisch beschossen und bombardiert.
Die Stadt Bachmut ist der Schlüsselpunkt für eine weitere Zangenoperation. Sie wird bereits systematisch beschossen und bombardiert.
© Aris Messinis / AFP
Kiew steht davor, die beiden letzten großen Städte in der Oblast Luhansk zu verlieren. Strategisch sind die geringen Geländegewinne nicht entscheidend, aber die Verluste an Soldaten und Material sind bedrohlich.

Russische Truppen stürmen Sjewjerodonezk, nachdem sie am Wochenende die Ausläufer der Stadt erreicht haben. Genau so sieht es in der Nachbarstadt Lyssytschansk aus. Die beiden Zwillingsstädte sind die beiden letzten großen Zentren, die Kiew noch in der Oblast Luhansk beherrscht. Und schon vor dem Fall der Stadt wird versichert, dass sie strategisch unbedeutend sei – genau genommen die Verluste der Schlacht gar nicht wert. Dieses Urteil missachtet das Wesen des Krieges, den Putins General Alexander Dwornikow den ukrainischen Streitkräften aufzwingt. Ja – es gibt keine kühnen Vorstöße, die russischen Truppen bewegen sich langsam, wenn sie sich überhaupt bewegen. Gelingt ihnen einmal ein Durchbruch, dann passiert zunächst einmal fast gar nichts.

Dauerhafte Zermürbung als Strategie

Das ist korrekt, dabei wird aber übersehen, dass sich die Frontlinie tatsächlich dann doch bewegt, in Zeitlupe und zuungunsten Kiews. Die ganze Strategie von Dwornikow kann man mit dem Wort "Fleischwolf" beschreiben. Oder wie ein pro-russischer Blogger schrieb: Pac-Man-Strategie, überall, wo es geht, etwas abbeißen und zerkauen. Dwornikow nutzt aus, dass die ukrainischen Soldaten nicht zurückweichen dürfen und können. Würden sie aus der Front in rückwärtigen Stellungen verlagern, würden die Russen nur vorrücken und zwei Wochen später befänden sich die ukrainischen Soldaten in der gleichen Situation. Der Geländeverlust würde nur sehr kurzfristig Linderung verschaffen. Also hält die Armee in ihren Stellungen aus.

Artillerie beherrscht das Gefechtsfeld

Gräben und Bunker, in denen sie nun mittlerweile fast 100 Tage lang ununterbrochen beschossen werden. Im Donbass konnte Kiew im Laufe der Jahre mehrere befestigte Verteidigungslinien aufbauen. Doch das schwere Bombardement nutzt die ukrainischen Truppen ab, es führt zu einer wachsenden Zahl ukrainischer Opfer. Die russische Artillerie zerschlägt Stellung für Stellung, Dorf für Dorf, Stadt für Stadt.

Noch bedrohlicher wird die Lage, wenn sich Kiews Truppen unter dem feindlichen Feuer zurückziehen müssen. Dazu müssen sie die wenigen Straßen benuzten und den Schutz ihrer Bunker verlassen. So wie es derzeit in Sjewjerodonezk geschieht. Mit der Eroberung der Stadt wird der Krieg nicht zu Ende sein. Das nächste Ziel wird der Verkehrsknotenpunkt Bakhmut sein, um die Region um Sjewjerodonezk komplett abzuschneiden. Danach wären die Städte Kramatorsk und Slowjansk unmittelbar bedroht. Hier dürfte Russland dann auch die letzte befestigte Verteidigungslinie erreicht haben.

Es fehlt den Truppen an allem 

Wie kann dieser Fleischwolf gestoppt werden? Anders als die offiziellen Videos nahelegen, sind viele ukrainische Truppen nur sehr unzureichend ausgerüstet. Es fehlt an allem, an schweren Waffen, aber auch an Schutzwesten, selbst an Stiefeln und Uniformen. Vor allem aber fehlt es an schwerer Artillerie. Und hier sind große Mengen nötig. Die USA haben es verstanden, als sie gleich 90 155-mm-Haubitzen lieferten. Denn die Dimension, die benötigt wird, lässt sich nur in Hunderten abzählen. Monatelange Vorbereitungen, um dann sieben Panzerhaubitzen 2000 zu liefern, werden zu wenig sein, auch wenn diese Waffen technisch hervorragend sind. Ihre Anzahl wird nicht annähernd die Verluste Kiews ausgleichen. Bei diesen Lieferungen – spät und wenig – wird die ukrainische Armee stets schwächer und nicht stärker. Böse gesagt: Das Starlink-System des exzentrischen Elon Musk hat Kiew weit mehr geholfen als die Versprechen Deutschlands.

Da die eigene Rüstungsindustrie in der Ukraine praktisch ausfällt, müssten die Lieferungen aus dem Westen gewissermaßen die Produktion des eigenen Landes unter Kriegsbedingungen ersetzen. Es wird auf Dauer nicht ausreichen, ein wenig vom Material der aktiven Truppen abzuzwacken und dann zu schauen, was an Altgerät noch irgendwo herumsteht. Auf lange Sicht muss der Westen Waffen und Munition für Kiew neu herstellen.

Einzele Kanonen reichen nicht 

Es gehört zum guten Ton, nicht von den Verlusten der Ukraine zu sprechen. Doch beim Fall von Mariupol wurden nicht nur alle Verteidiger getötet oder gefangen genommen, auch das komplette Material der eingesetzten Truppen ging verloren. Sollten Sjewjerodonezk und Lyssytschansk fallen, solange die Städte nicht komplett eingeschlossen sind, kann das ukrainische Oberkommando versuchen, einen Teil der Soldaten zu retten, doch die Masse der schweren Waffen wird verloren gehen. Fotos zeigen, wie schlecht es um Transportmöglichkeiten bestellt ist. Konvois bestehen aus einigen Militärfahrzeugen, doch die meisten Soldaten quetschen sich in requirierte zivile Pkw, selbst im Kofferraum sitzt noch ein Mann.

Die russische Zeitlupenoffensive wird erst zusammenbrechen, wenn es gelingt, die schwere russische Artillerie auszuschalten. Das kann aber nur geschehen, wenn Kiew selbst schwere Geschütze bekommt, intelligente und reichweitengesteigerte Munition und Boden-Raketen. Derzeit versucht Kiew, die Invasoren durch eigene Offensiven an anderen Frontabschnitten unter Druck zu setzen. Ohne Luftherrschaft und gegen eine überlegende Artillerie ist das ein gefährliches Manöver, im Angriff bieten Truppen leichtere Ziele, als wenn sie sich verstreut in ihren Befestigungen aufhalten.

Diktat eines Siegfriedens 

Die russische Strategie ist leicht zu erkennen: Durch permanente Abnutzung und Verluste sollen die Kiewer Streitkräfte bis zum "Breaking Point" gebracht werden. Im Laufe des Sommers soll der gesamte Donbass erobert werden. Dann wird der Ukraine ein "Siegfrieden" mit großen Geländeabtretungen diktiert. Eine Situation, wie vor dem Minsker-Abkommen aber in XXL. Kiew muss sich dann entscheiden, den Krieg in einer sehr schwierigen Situation fortzuführen und dabei weitere Verluste von Soldaten und Gelände zu erleiden oder das Diktat anzunehmen. Dabei wird der Kreml darauf spekulieren, dass die Unterstützung im Westen abnimmt. Wegen des Gewöhnungseffekts der Öffentlichkeit, der wachsenden Kosten des Krieges für die Bürger und wegen der Aussichtslosigkeit des Widerstandes. Die Ukraine würde sich extrem geschwächt wieder finden, abgeschnitten von den Häfen und unter der permanenten Bedrohung eines neuen Krieges.

Um so ein Szenario zu verhindern, müssen die ukrainischen Streitkräfte quasi sofort mit mehr Material jeder Art unterstützt werden. Spätere Hilfe wird bei Weitem nicht so wirksam sein. Auch wenn Kiew bislang die Kriegs-PR bestens meistert, wird man weitere Niederlagen wie in Mariupol auf Dauer der eigenen Bevölkerung nicht als Heldenstück verkaufen können. Vor allem: Der Westen kann verlorenes Gerät ersetzen, die gefallenen, verwundeten und gefangenen Soldaten aber nicht.