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Opel Astra im Praxistest Flotte Schildkröte mit kleinen Schwächen

Am Wochenende stand der neue Opel Astra erstmals bei den Händlern. stern.de-Redakteurin Wencke Bugl hat sich einen geschnappt und einem rigorosen Alltags- und Geschmackstest unterworfen.

Der Opel Insignia ist ein Erfolg, der Astra muss einer werden, damit Opel eine Zukunft hat. Aber hat der Kompakte aus Rüsselsheim das Zeug, Herz und Verstand einer Autofahrerin zu erobern? Der Fahrbericht von Wencke Bugl:

Ich muss zugeben, ich hatte viele Vorurteile gegen die Autos mit dem Blitz. Sobald ich "Opel" sage, summt es in meinem Kopf: "Jeder Popel fährt 'nen Opel…" - dieses unsägliche Lied der Prinzen ("Mein Fahrrad") aus den 90er Jahren. Das letzte Mal saß ich in dem Opel, Modell Vectra, Baujahr 1995, und meine Freundin Kathi kutschierte mich durch die Kasseler Berge zum Studieren nach Bayern. Es war das Auto ihres Vaters, eines leidenschaftlichen Fahrradfahrers und PS-Ignoranten. Dieses dünnhäutige Automobil bestand lediglich aus einer blechernen Außenschicht, Plastikschalen im Inneren, vier Rädern und einem rasselnden Motor - mehr war damals, dank rigider Sparpolitik aus Detroit, nicht aus Rüsselsheim zu erwarten. Und jetzt das: knallrot, schnittig, durchtrainiert und ziemlich präsent. Der neue Opel Astra.

Ich steige ein, prüfe beim Schließen erst einmal das Gewicht der Tür. Nein, nichts erinnert bei diesem Kompakten an den alten klapprigen Vectra von 1995. Die Sportsitze halten mich fest, ich muss den Arm nur wie im Fernsehsessel leicht nach rechts bewegen und schon schmiegt sich der Schaltknüppel in meine Hand. Knie, Ellenbogen und die restlichen Extremitäten finden Platz. Als nächstes: Seitenspiegel einrichten - alles elektrisch. Ich will gerade den Rückspiegel anpassen, da bleibe ich an dieser gigantischen Plastikhalterung, die plump an der Vorderscheibe klebt, hängen. Den Spiegel hält die Konstruktion zwar fest, gleichzeitig versperrt sie mir auch die Sicht, vor allem auf Ampeln. Und will man nach Einbruch der Dunkelheit durch den Rückspiegel sehen, bleibt es ziemlich duster. Spiegel sowie Heckfenster sind so getönt, dass der Verkehr hinter mir nur noch aus Lichtkegeln und ein paar schemenhaften Umrissen besteht.

Sowieso lässt die Übersichtlichkeit ziemlich zu wünschen übrig. Dicke robuste Streben, ein weit nach unten gewölbtes Dach, hoch gezogene Türen - fast wie im Inneren eines Schildkrötenpanzers - vermitteln mir zwar das wohlige Gefühl von Sicherheit, bezahlt wird dieses Gefühl jedoch teuer mit schlechtem Überblick. Ohne Parkpilot für einen Aufpreis von 380 Euro wäre ich aufgeschmissen. Und dabei bin ich kein Fan dieser Art der Fahrerentmündigung.

Ich fahre los. Es geht zu einem großen schwedischen Einrichtungshaus, der Härtetest in Sachen Innenraum und Stop-and-Go-Verkehr, es ist Samstagnachmittag. Zuerst ein Stück Autobahn; hier entfaltet die sportliche Kampfschildkröte ihre wahre Größe: unmittelbare Schaltübersetzung, kraftvoll schnurrende Motorengeräusche, Unebenheiten kommen im Inneren kaum an - und erst die Straßenlage! Viel zu schnell ereiche ich die Zielausfahrt. Der Astra atmet Autobahn und kann dort problemlos mit der Konkurrenz aus Wolfsburg oder Ingolstadt mithalten. Auch im stockenden Zubringerverkehr an diesem Adventswochenende macht er eine gute Figur. Die Beschleunigung ist rasant und aggressiv oder schwebend sanft, je nach Fahrstil.

Hervorzuheben ist noch das fabelhafte Navi mit variabel animierter Kartenoptik, das sogar bei laut aufgedrehter Musik bestimmt seine Anweisungen gibt - ohne Herzinfarktrisiko für den Fahrer. Die rund um das Navi im Überfluss auffindbaren Knöpfe, Regler, Leuchten, Rädchen und Co. erinnern eher an ein Kleinflugzeug als an einen Kleinwagen. Sie sind ohne Co-Pilot nicht handhabbar.

Nun gilt es noch das Ergebnis eines Möbelhausnachmittages im Wagen zu verstauen. Auf den ersten Blick ist der Astra-Kofferraum kein Raumwunder. Was auffällt ist, dass es keine unbequeme Kante gibt über die man Kisten oder andere Einkäufe hinüberwuchten muss. Wenn man etwas genauer hinschaut entdeckt man eine schwarze Schlaufe mit deren Hilfe man den Kofferraumboden absenken kann und geschätzte 80 Liter hinzugewinnt. Das ist schön, aber zum Verstauen eines zwei Meter langen Badezimmerregals samt Glastür nicht sonderlich hilfreich. Rückbank und auch Vordersitz lassen sich jedoch in wenigen Minuten umlegen, und dann kommt der Kompakte regelrecht ausgewachsen daher. Beim Beladen fällt die großzügige Kofferraumöffnung ebenfalls positiv auf.

Wären die Opel-Konstrukteure bei den Einstiegsöffnungen der Türen doch auch so großzügig gewesen. Jeder, der über 170 cm groß ist und bei den Bundesjugendspielen ohne Ehrenurkunde davon gekommen ist, geschweige denn sich an jene Sportspiele aus dem Schulalltag gar nicht mehr erinnern kann, muss schon mal schmerzhafte Verrenkungen beim Einsteigen hinnehmen.

Sportlichkeit ist also das Leitmotiv dieses neuen Opel Astra, der für die Rüsselsheimer in diesem Jahr, wie schon der große Bruder Insignia 2009, den Titel "Auto des Jahres" erringen sollte. Doch hätte er das überhaupt verdient? Meine Bilanz nach einem Wochenende als "Astranautin" ist deutlich zweigeteilt: Viele Spielereien, von der Mittelkonsole im Font über all die Cupholder, die eleganten Armaturen des Fahrers bis zu den beiden beleuchteten Schmikspiegeln im Sonnenschutz sind wirklich nett. Die Straßenlage ist dank großzügigen Radstands hoch komfortabel. Und der Fahrspaß liegt auf Bundesliganiveau. Da sieht man sogar über Bedienungsterror in der Konsole hinweg.

Was mir jedoch schmerzlich fehlt, ist der einzigartige Charakter dieses Fahrzeugs, der sich auch im Äußeren zeigen muss. Ich will mich in dem Gesicht meines Autos wieder erkennen. Ich will nicht, dass es vor allem von hinten und von der Seite wie jeder zweite Japaner aussieht. Ich wünsche mir etwas weniger Schwulstigkeiten in der Linienführung, dafür mehr Eleganz. Ich wünsche mir einen Astra, dem ich seine Familie auch nach ein oder zwei Generationen noch ansehe - so sehr ich mich auch darüber freue, dass seine Verwandtschaft zum Vectra der 90er nicht weitervererbt wurde. Der Titel "Auto des Jahres 2010" ist es also nicht geworden, aber einen Platz auf dem Podest hat der Astra allemal verdient: Bronze für den ausgewachsenen Kompakten!

Wencke Bugl

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