"BioShock" Aus dem Ruder gelaufene Utopie

Spannend, haarsträubend, verstörend - "BioShock" wirkt wie ein 20-stündiger Videoclip von Marilyn Manson. Doch gerade der groteske Stil des Games und die dadurch erzeugte Atmosphäre machen den Vorschusslorbeeren überhäuften Titel so interessant.

Zum Anfang ein Absturz. Eben noch eine Zigarette angesteckt, rauchen im nächsten Moment die Motoren des Fliegers. Die Bruchlandung im Wasser überlebt nur der Spieler, der nach dem Auftauchen erst einmal staunt: Virtuelles Wasser kann wunderschön sein - vor allem, wenn es brennt. In der Ferne ein Turm im Nirgendwo des Atlantiks - der Zugang zu Rapture, einer Art Gotham City unter der Meeresoberfläche.

Erbaut hat diese Zufluchtsstätte für die vermeintlich perfekte und makellose Gesellschaft der größenwahnsinnige Menschenfeind Andrew Ryan. Die Fahrt in der rostigen Tauchglocke wird von einem schnöden Propaganda-Spot begleitet, doch die Realität sieht anders aus: Sie Stadt gleicht einem nassen Grab, nur noch von entstellten Menschen, verlorenen Seelen und anderen Schrecken bevölkert. Irgendetwas ist hier mächtig aus dem Ruder gelaufen. Das Ziel ist deshalb einfach: Weg von hier! Ein Kerl namens Atlas bietet über Funk Hilfe an, will aber mitsamt seiner Familie ebenfalls aus der nassen Hölle gerettet werden ...

Bevor man jedoch in die Tiefen der Geschichte abtaucht, sollte man vielleicht bei Adam und Eve beginnen. Nein, nicht den Bibelfiguren, sondern dem Stoff, der für den Niedergang von Rapture verantwortlich ist: Superstammzellen, die Wundersames bewirken. Auch dem Helden Jack ist es dadurch möglich, über sich hinauszuwachsen - buchstäblich. So genannte Plasmide, genetische Modifikationen, sorgen dafür, dass er mit einem Fingerschnippen Gegenstände in Flammen aufgehen lassen kann. Dass ihm Blitze aus den Fingerspitzen schießen. Dass seine Gegner den Funken Restverstand verlieren, der ihnen noch geblieben ist. Oder dass sich feindliche Granaten per Gedankenkraft zurückschleudern lassen.

Anderes Gen-Material verstärkt passive Fähigkeiten, sodass der Spieler mehr Treffer einstecken oder schneller die zahlreichen Munitionsautomaten, Erste-Hilfe-Stationen und Sicherheitssysteme hacken kann. Die Frage ist nur: Wie viel Menschlichkeit ist man bereit aufzugeben, um die eigene Haut zu retten? Wirft man auf dem Survival-Trip durch Rapture jegliche Moral über Bord? Und würde man dafür auch über die Leichen kleiner Mädchen gehen? Ein echtes Dilemma: Die sogenannten Little Sisters, Ergebnis eines grausigen Experiments, sind auf der rastlosen Adam-Suche, das sie in rauen Mengen aus den Kadavern der Bewohner gewinnen. Und sobald man ihre nur behäbig wirkenden Bodyguards, die Big Daddys, nach zähem Ringen ausgeschaltet hat, steht man vor der Qual der Wahl: Die angsterfüllten Gören retten und nur wenig Adam dabei gewinnen, was den weiteren Spielverlauf ungemein erschwert? Oder ihnen in einer tödlichen Prozedur den gesamten Wunderstoff entziehen, um damit weitere Fähigkeiten freizuschalten? Nur so viel: "BioShock" stellt den Gamer oft vor schwierige Entscheidungen ...

Durch das Hantieren mit allerlei Gencocktails bekommt Take2s Hoffnungsträger auch einen kräftigen Rollenspielschuss - was "BioShock" zum Quasi-Nachfolger der altehrwürdigen "System Shock"-Reihe macht und den Titel zugleich aus der schmuddeligen Shooter-Ecke holt. Tumbes Ballern ist hier trotz des umfangreichen und ausbaubaren Waffenarsenals (vom Schraubenschlüssel bis zum Granatwerfer mit Alternativmunition) ohnehin meist nur die drittbeste Lösung. Es gibt elegantere Möglichkeiten, sich der irre clever agierenden Gegner und vereinzelten Bosse zu entledigen. Etwa, indem man sie gegeneinander aufhetzt. Oder die Wachroboter manipuliert. Oder sie in eine Wasserlache lockt und diese unter Strom setzt. Oder die Pfütze einfriert ...

Die Handlungsfreiheit ist enorm, steht aber in keiner Relation zu der schaurigen Detailverliebtheit, die das Entwicklerteam bei der Inszenierung an den Tag gelegt hat. Stilistisch spielt "BioShock" in einer eigenen Liga. Über weite Strecken wirkt das Geschehen einem Marilyn-Manson-Videoclip entsprungen: Fotos von vernarbten Gesichtern hängen an den Wänden, herumliegende Tonbänder und blutige Schriften auf dem Boden künden vom Wahnsinn, der sich hier breitgemacht hat. Das puppenhafte Äußere der Little Sisters, flackernde Lichter, schummrige Schattenspielchen, das Art-Deco-Design der Räumlichkeiten und der hervorragend inszenierte Verfall von Rapture tun ihr Übriges, um eine äußerst beklemmende Atmosphäre zu erzeugen.

Verstärkt wird das Ganze von einer erstklassigen audiovisuellen Präsentation, die mit hochauflösenden und plastischen Texturen, exzellenten Effekten und einem großartigen 5.1-Sound aufwartet. Das manische Gelächter und das Schleifen von Metall auf Marmor gehen durch Mark und Bein. Und schließlich ist da noch das Wasser. Es tropft von den Decken, sammelt sich in Lachen am Boden, rinnt aus gesprungenen Glasscheiben, drückt Schotts ein - und sieht einfach beeindruckend aus.

BioShock

Hersteller/Vertrieb

Irrational Games/Take2

Genre

Action

Plattform

PC, Xbox 360

Preis

ca. 65 Euro

Altersfreigabe

ab 18 Jahren

Wenn es etwas an "BioShock" zu bemängeln gilt, dann das: Die vom Entwickler angestrebte Revolution des Genres ist nicht gelungen. Das Spiel ist erstaunlich bodenständig, mischt bekannte Elemente aber zu einem schrecklich-schönen Erlebnis, das lange in Erinnerung bleibt - wie einst "System Shock" ...

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Gerd Hilber/Teleschau

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