Da ist es nun, das Rollenspiel aus Deutschland, auf das die Fangemeinde seit dreieinhalb Jahren gewartet hat: "Gothic 3". Ein Monstrum von Game, und wie der Konkurrent "Oblivion" mit schier unbegrenzten Möglichkeiten der Interaktion ausgestattet. Wer will, kann als Namenloser 100 Stunden und länger in die riesige Welt Myrtana eintauchen, in der Krieg zwischen Orks und Menschen herrscht und die so dringend nach einem Retter schreit.
Und nach dem technischen Pannendienst! Denn traurig, aber wahr: "Gothic 3" wirkt alles andere als fertig - selbst nach der Installation eines 60 Megabyte großen Patches, der bereits am ersten Verkaufstag veröffentlicht wurde. Das Spiel der Essener Entwickler Piranha Bytes strotzt vor kleinen Fehlern und großen Ungereimtheiten. Und man muss schon die rosarote Fanbrille aufsetzen, um über diese hinwegzusehen.
Die Mängelliste
Die Liste der Nicklichkeiten ist geradezu unverschämt lang und erstreckt sich von der leicht fummeligen Handhabe über das actionorientierte, aber unausgereifte Kampfsystem bis hin zu peinlichen KI-Aussetzern: So attackieren beispielsweise Wildschweine derart schnell, dass dem Helden keine Zeit zur Parade oder gar zum Angreifen bleibt. Dann wiederum sind die Viecher so doof und lassen sich an einem Hindernis klebend ohne Gegenwehr oder Fluchtgedanken von Pfeilen durchbohren.
Besonders schwer wiegend: Manche Quests können nicht beendet werden, weil der Auftrager plötzlich verschwunden oder von einem übereifrigen Keiler getötet wurde. Und zu allem Überfluss entwickelt das Spiel, das weit unspektakulärer als "Oblivion" daherkommt, einen enormen Hardware-Hunger, den nur High-End-Systeme stillen können - und der dennoch Grafik-Fehler am Fließband produziert.
Mit aller Macht ins Weihnachtsgeschäft
Ärgerlich ist das alles - und völlig unnötig obendrein! Weitere sechs Monate Fein-Tuning und das Komplexitätsmonster "Gothic 3" wäre vielleicht ein handzahmes Spiel gewesen. So aber drängt sich wieder einmal der Verdacht auf, dass der Titel auf Biegen und Brechen im Weihnachtsgeschäft veröffentlicht werden musste.
Gothic 3
Hersteller/Vertrieb | Piranha Bytes / JoWooD/Koch Media / Deep Silver |
Genre | Rollenspiel |
Plattform | PC |
Preis | zirka 50 Euro |
Altersfreigabe | ab 12 Jahren |
Es braucht also eine gewisse Frustresistenz, jede Menge guten Willen und noch mehr Speicherstände (die gerne unrettbar zerstört werden), um über die vielen Schwächen hinwegzusehen. Aber der eingefleischte "Gothic"-Fan ist bekanntlich äußerst leidensfähig, weiß er doch, dass bislang die erstklassige Geschichte für so manche Bug-Qual entschädigte. Auch diesmal ist das der Fall. Allerdings sollten die Ereignisse der Vorgänger parat sein, andernfalls kommt man sich in den ersten Stunden etwas hilflos vor. Ein kurzer Umriss: In "Gothic 1" büxte man aus einem magischen Knast aus, im zweiten Teil flüchtete der Namenlose mit seinen Kumpels von einer Drachenverseuchten Insel. Nun strandet er in den Fantasy-Gestaden von Myrtana. Orks unter der Knute des Dämonenbeschwörers Xardas haben die Herrschaft über weite Teile des Landes an sich gerissen und die Menschen versklavt, sind aber nicht die eindimensional bösen Schlächter wie bei "Herr der Ringe" und Co. Im späteren Spielverlauf erfährt man, dass hier gar ein Konflikt weit höherer Natur ausgetragen wird und der Spieler das Zünglein an der Waage ist.
Hoher Wiederspielwert
Handlungsfreiheit wird in "Gothic 3" groß geschrieben: Der Spieler kann sich den Rebellen anschließen und die Menschen aus der Knechtschaft befreien. Er darf sich aber auch als Söldner für die Grünhäute verdingen oder zu den Assassinen im sandigen Süden überlaufen, die ihre eigenen Ziele verfolgen. Oder: Er spielt alle Parteien gegeneinander aus! Der Wiederspielwert ist enorm - auch wegen der Möglichkeit, aus zig Talenten einen individuellen Charakter zu entwickeln.
Umso mehr hätte man sich etwas mehr Führung gewünscht. Nach dem Patch zeigt die Weltkarte zwar die eigene Position in Form eines kleinen Pfeils an. Ein Kompass, der grob die Richtung zum nächsten Quest-Ziel weist, wäre angesichts der meist recht vagen Wegbeschreibungen aber schön gewesen. Dafür kommen "Gothic"-Fans an anderer Stelle in den Genuss von etwas, das es bei der Reihe noch nie zuvor gab: Bedienkomfort. Mit Grauen erinnern sich Zocker an die hakelige Steuerung von Teil eins und zwei nebst Addons. "Gothic 3" macht hier einen deutlichen Sprung nach vorne, auch wenn bei der Inventar- und Charakterverwaltung durchaus noch Verbesserungspotenzial besteht.
Wundervolle Fantasiewelt
Der größte Pluspunkt von "Gothic 3" ist jedoch seine liebevoll gestaltete, trotz aller Bug-Ungereimheiten schlüssige Welt mit all ihren Städtchen, Dörfern und Burgen. Myrtana lebt und atmet. Und die Taten des Spielers spiegeln sich dank eines Ruf-Systems im Verhalten der Bewohner wieder.
Auch bei der Landschaftsgestaltung ist im Gegensatz zu "Oblivion" wenig dem Zufall überlassen. Soll heißen: kein Dungeon aus dem Baukasten, alles handgemacht. Aufwändiger wurde nur noch der sensationelle Soundtrack produziert, bei dem neben den Bochumer Symphonikern auch die Mittelalter-Band Corvus Corax und die Sängerin Lisbeth Scott mitwirkte.
Fazit: Es fällt schwer, "Gothic 3" ohne Vorbehalte zu lieben. Oder abgrundtief zu hassen. Der ganz große Wurf ist es jedenfalls nicht - zumindest nicht in diesem Zustand. Entwickler und Publisher müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, ihr Produkt überhastet auf den Markt geworfen zu haben. Der Fan wird's schon kaufen. Und tatsächlich, die unverschämte Rechnung geht auf: "Gothic 3" stürmte sogleich auf Platz eins und zwei (Collector's Edition) der Verkaufscharts ...