E-Mails checken, auf Facebook posten, twittern, surfen. Immer und von überall. Wir haben uns so sehr mit dem Internet verzahnt, dass ein Leben ohne kaum denkbar scheint. Paul Miller hat das Undenkbare gewagt: Der New Yorker Autor für Tech-Themen kehrte dem Netz ein Jahr lang den Rücken.
Rückblick, April 2012. Miller fühlt sich ausgelaugt und leer, überfüllt mit sinnlosen Kontakten und dauerabgelenkt durch einen endlosen Strom an Informationen. Vom zwölften Lebensjahr an war er online. Nun, mit 26, will er für ein Jahr seine Verbindung mit dem Netz kappen. Kein Internet, kein Smartphone, keine E-Mail. Den Job kündigen, das Offline-Leben wiederentdecken. Herausbekommen, was das Netz aus ihm gemacht hat. Kurz: Miller will den echten Paul Miller entdecken. Die Reise endet in einer Überraschung.
Wochen der Befreiung
Das Technologie- und Medienmagazin "The Verge" will wissen, wie sich das Leben ohne Internet anfühlt – und trägt das Experiment mit. Am 30. April 2012 ist es soweit. Miller kappt das Ethernet-Kabel zu seinem Computer, schaltet das WLAN aus und vertauscht sein Smartphone mit einem simplen Handy.
Die ersten Wochen sind phantastisch, schreibt Miller: "Es fühlte sich großartig an. Mein Leben füllte sich mit glücklichen Events: Echte Meetings, Frisbee werfen, Fahrradfahren. Schreiben. Ich schrieb einen halben Roman, ohne genau zu wissen, wie es geschah." Jede Woche wird ein Artikel für The Verge fertig. Zum ersten Mal zeigt sich Millers Chef genervt darüber, dass er so viel schreibt. Die Wochen sind super. Der Internet-Nerd verliert zwölf Kilo Gewicht. Seine Freunde sagen ihm, dass er blendend aussieht, so gut, wie lange nicht. Miller findet Gefallen an Gedanken, die länger sind als ein Blogeintrag.
Um sich mit Leuten zu treffen, muss er raus aus dem Haus. Verabredungen über Twitter sind passé, Leute treffen funktioniert nur unterwegs. Millers Schwester zeigt sich glücklich, weil er endlich zuhört, ohne gleichzeitig am Computer zu hängen. Sie sagt, er wäre nicht mehr so ein Idiot.
Paul Millers Rückkehr ins Internet
Mit Stadtplänen unterwegs
Die ersten Monate fühlt sich alles super an. Den Stadtplan von New York hat Miller im Kopf, für fremde Gegenden gibt es Stadtpläne. Er entdeckt Bücher aus Papier. Nur mit der Post ist es ein Kreuz. Zunächst ist der Internetflüchtling begeistert: Ein Briefkasten voll mit echten Briefen! Nur das Beantworten dauert lang. In der Zeit, in der er ein Dutzend Briefe erwidert, könnte Miller 100 E-Mails beantworten.
Ende 2012 kommt der Wendepunkt. Der Selbstversuch kippt ins Negative. Das Leben ohne Netz bringt zwar neue Routine bei den einfachsten Dingen, aber es wird anstrengend. Anrufen ist schwieriger als eine E-Mail schreiben. "Ich weiß nicht genau, was sich plötzlich geändert hat", sagt Miller. "Die ersten Monate waren so super, weil der Druck fehlte." Langsam stellt sich Langeweile ein. Und allmählich gewinnen die eher dunklen Seiten seines Ichs die Oberhand
Vom Internet-Nerd zum Couch-Potatoe
Denn schließlich gibt es noch das Fernsehen. Stumpf konsumiert Miller, was so läuft. Tagelang verlässt.er die Wohnung nicht, zieht sich zurück. Die Eltern erkundigen sich, ob er noch lebt. Der Akku des Telefons wird leer, es ist ihm egal. Freunde kehren ihm den Rücken – er ist so schlecht erreichbar. Ihm dämmert: "Auch wenn wir vor dem Computer sitzen, sind wir Wesen aus Fleisch und Blut." Lange hat er über Facebook-Freunde gelästert – nun sagt er: "Besser ein Facebook-Freund als gar keiner." Es passieren unerwartete Dinge: Paul bestellt eine Pizza übers Telefon, doch der Restaurantmanager streicht die Bestellung. Er vermutet einen Scherz, da in New York niemand mehr Pizza übers Telefon bestellt.
Das Jahr ist beinahe rum. Millers Plan war, den echten Paul zu entdecken. Das ist ihm gelungen, aber auf eine gänzlich unerwartete Weise. Tatsächlich verliert Miller den Kontakt zu seinem echten Leben. Denn das ist in Wirklichkeit fest mit dem Internet verbunden. Ohne Netz ist der echte Paul unauffindbar. Miller gesteht sich ein: "Was ich in dem Jahr gefunden habe, war alles andere als super." Er sagt: "Das Internet ist der Platz, an den ich gehöre."
Am 1. Mai ist es dann endlich soweit. Beim Vergecast vor laufender Kamera setzt sich Miller die Lesebrille auf und platziert sich vor ein Macbook. Er stöpselt das Netzwerkkabel ein, schaltet das WLAN an, öffnet einen Browser. Großes Gejohle um ihn herum. Millers Bilanz: "Kann sein, dass ich mit dem Internet Zeit verschwende oder mich ablenke - aber zumindest hab ich wieder Anschluss."