Seltsamer Fotoapparat, dieses silberblaue Bastlerstück, mit dem Steven Sasson an einem Dezembertag 1975 seine Kollegin Joy Marshall ablichtet. Da ist so etwas wie ein Objektiv, gewiss - aber sonst? Eine Ansammlung von Schrauben, Elektronik und Metall, mittendrin ein Kassettenrekorder. Alles zusammen so groß wie ein Toaster und gut dreieinhalb Kilo schwer. Es macht nicht mal "klick", als Sasson auf den Auslöser drückt. 23 Sekunden lang schreibt die Elektronik Daten auf das Tonband - dann ist das erste Bild, das je digital aufgenommen wurde, im Kasten.
Nicht, dass das Fotomodell den monumentalen Augenblick zu würdigen wüsste: Es dauert etwa eine Minute, bis Marshalls Kopf auf dem angeschlossenen Fernseher erscheint - in Schwarz-Weiß, ohne Grautöne, nur als Umriss zu erkennen. "Joy sagte nur: 'Ihr habt noch Arbeit vor euch'", erzählt Sasson. Für ihn war das Experiment trotzdem gelungen, denn "immerhin war ihr Haar an der richtigen Stelle, Schwarz war Schwarz, und Weiß war Weiß."
"Ich verstand nichts von Fotografie"
Sasson ist ein gut gelaunter, jugendlich wirkender Familienvater von heute 58 Jahren; ein lebenslanger Tüftler. Zum Glück hat er viel Geduld: Mehr als 20 Jahre dauerte es, bis Fotochips und Elektronik zu einer ernsthaften Alternative für Filme und Dunkelkammer wurden. Kodak, der größte Filmhersteller der Welt, war ohnehin kein dankbarer Abnehmer für Sassons Erfindung. "Was ich vorführte, war eine Kamera, die keinen Film brauchte und ihre Bilder nicht auf Papier druckte", erklärt Sasson die Zurückhaltung seiner Chefs.
Dass der gebürtige New Yorker, der schon als Kind an alten Radios herumbastelte, direkt nach dem Studium bei Kodak im Städtchen Rochester am Ontario-See landete, verdankte er seiner damaligen Freundin: Sie erzählte ihm, dass die Firma nach Ingenieuren suchte, weil Kameras zunehmend Elektronik enthielten, um Automatikfunktionen zu steuern. "Ich verstand nichts von Fotografie, aber die Aufgabe gefiel mir", sagt Sasson. Als sein Chef ihn bat, sich einen neuen, lichtempfindlichen Chip anzusehen, kam ihm der Gedanke, eine elektronische Kamera zu bauen.
Monatelang lief das Projekt eher nebenher, ohne dass sich in den oberen Etagen jemand darum kümmerte, was Sasson und zwei Assistenten so trieben. "Wir konnten nach Lust und Laune herumspielen", erinnert sich der Kodak-Entwickler, der als seine herausragendste Eigenschaft "Neugierde" nennt. Das Budget war minimal, also klaubte Sasson die Bauteile aus der Resteverwertung zusammen. Die zwei Aufnahmechips zu 300 Dollar je Stück waren das Teuerste an dem neuartigen Fotoapparat, der damit ein winziges Bild aus 100 mal 100 Punkten zusammensetzen konnte - gerade mal 0,01 Megapixel.
Erfinder und Wegbereiter
Heute hat sich Kodak ganz der digitalen Fotografie verschrieben. Steven Sassons Job ist es, die vielen Patente zu überwachen, die Kodak in diesem Bereich hat, darunter auch sein eigenes. Mit seiner zweiten Frau Cindy, einer 18-jährigen Tochter und einem 21-jährigen Sohn lebt er auf dem Land. Manchmal nimmt er Seeadler mit der Kamera aufs Korn, auch bei Familienfeiern greift Sasson gern zum Fotoapparat - digital, versteht sich.
Auf der Photokina in Köln erhält Steven Sasson in diesem Jahr den Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie. "Wir ehren einen genialen Erfinder", sagt Professor Gottfried Jäger, der den Preis überreichen wird und die Bedeutung von Digitalkameras hoch einschätzt: "Die Fotografie ist an einen neuen Anfang gekommen." Sasson soll bei der Gelegenheit den Prototyp seiner Digitalkamera mitbringen, doch er wird ihn im Container vorausschicken, zusammen mit den Kodak-Modellen für die Messe. "Ich hab's einmal im Handgepäck versucht - aber das Ding können Sie niemandem erklären."