Liebe Frau Peirano,
ich, m 41, habe seit einigen Jahren Panikattacken und dadurch auch eine immer stärkere Angst vor Situationen, in denen die Panikattacken auftreten könnten. Ich gehe nicht mehr in Menschenmengen oder ins Kino, fahre nicht mehr S-Bahn, fliege nicht und neuerdings habe ich auch beim Autofahren, insbesondere im Tunnel und auf der Autobahn Angst, weil ich dann nicht mehr raus kann.
Ich habe auch schon einen Therapieplatz und kann in wenigen Wochen mit einer Verhaltenstherapie anfangen.
Ich frage mich aber, woran es liegt, dass ich so große Angst habe. Ich habe auch Angst vor Konflikten und versuche, alles richtig zu machen. Wenn andere Menschen mich nerven oder mich verletzen, sage ich oft nichts oder versuche, die Situation zu beruhigen, indem ich einlenke und vernünftig argumentiere. Danach liege ich stundenlang wach und habe Herzrasen und male mir aus, was ich alles hätte sagen können.
Meine Partnerin und Freunde haben mir schon öfter gesagt, dass ich konfliktscheu und aggressionsgehemmt bin. Ich weiß auch, woran das liegt. Meine Mutter ist früh gestorben und ich bin mit meinem Vater und dessen neuer Frau aufgewachsen. Mein Vater ist ein Choleriker, der aus heiterem Himmel wegen Kleinigkeiten ausgerastet ist.
Auch zwischen ihm und seiner neuen Frau gab es schlimmen Streit (auch körperliche Gewalt). Ich habe das als Kind oft mitbekommen und nicht gewusst, was ich machen soll.
Als Kind bin ich selbst manchmal wütend auf meinen Vater geworden und habe ihm gesagt, dass er ungerecht ist. Einmal habe ich auch meine Tasche auf den Boden geworfen. Mein Vater ist daraufhin extrem aggressiv geworden und hat mir gesagt, ich solle sofort damit aufhören, sonst passiere ein Unglück. Er hat mich angebrüllt und geschlagen.
Später habe ich meine Wut heimlich ausgedrückt, so dass er es nicht gemerkt hat. Ich habe im Wald gegen Bäume getreten oder Äste abgerissen. Ich habe die Seiten aus Büchern gerissen und sie in Schnipsel zerrissen. Oder ich bin laufen gegangen, bis ich nicht mehr konnte.
Es würde mich echt interessieren, ob die unterdrückte Wut die Ursache für meine Panikattacken ist. Was meinen Sie?
Viele Grüße
Claas Z.
Lieber Claas Z.,
ich kann mir vorstellen, dass Sie mit Ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen haben, dass die Angst und Panik mit unterdrückter Wut zusammen hängen.
Stellen Sie sich bitte einmal einen Gefühlsbaum vor, der verschiedene Äste hat: die unteren zwei Äste sind Lust (mit Verästelungen wie Freude, Spaß, Aufregung, Begeisterung, Neugier etc.) und Unlust. Der dicke Unlust-Ast teilt sich wiederum in drei weitere Äste, und zwar in
- Angst (mit abgehenden Ästen wie Panik, Sorge, Furcht etc.)
- Schmerz (mit Verästelungen Trauer, Wehmut, Kummer etc.) und
- Wut (mit den Verzweigungen Ärger, Verbitterung und Hass)
Im Idealfall fließt die Gefühlsenergie in alle Richtungen ungehemmt und die Person kann je nach Situation die entsprechenden Gefühle empfinden und angemessen ausdrücken.
Ganz oft sind aber bestimmte Äste nicht belebt, und dadurch fließt die Energie, die eigentlich in einen bestimmten Ast sollte, um so stärker in die anderen Äste.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Oft haben Menschen Probleme damit, Trauer oder Wut zu empfinden, weil Ihnen in der Lebensgeschichte verboten wurde diese Gefühle auszudrücken. Oder ein Kind hat gelernt, dass es schlichtweg nichts bringt, bestimmte Gefühle zu empfinden, weil keiner darauf eingeht. Und daraufhin hat das Kind diese Gefühle durch andere ersetzt, weil das weniger weh tat.
Ihre traurige Geschichte ist ein Beispiel dafür, warum ein Kind lernt, bestimmte Gefühlsäste quasi stillzulegen.
Zum Einen hat ihr Vater sie bestraft und bedroht, wenn Sie Wut gezeigt haben. Und zum Anderen hat Ihr Vater Ihnen vorgelebt, wie zerstörerisch ein falscher Umgang mit Wut sein kann. Auch das hat sicher dazu geführt, dass Sie es sich fortan selbst verboten haben, Wut zu empfinden. Zu einem angemessenen und guten Umgang mit Wut kommen wir später noch.
Wenn bei einem Menschen der Gefühlsast für Trauer (Untergruppe von Schmerz) stillgelegt ist, wird dieser Mensch oft unangemessen wütend, wenn er eigentlich traurig sein sollte. Zum Beispiel verfolgt und bedroht er den neuen Partner seiner Ex-Frau oder sucht Streit mit der Ex-Frau, anstatt zu betrauern, dass die Beziehung vorbei ist.
Und bei Menschen (wie Ihnen), die keine Wut empfinden, zeigen sich dann in den Situationen, in denen Wut angebracht wäre, Schmerz und Angst. Zum Beispiel wird eine Frau bei einem Date von einem Mann beleidigt, und anstatt dass ihm eine Grenze setzt und auf Abstand geht (das wäre ein Bestandteil von Wut), weint sie und kritisiert sich und ihren Körper. Sie geht also in den Schmerz, weil sie keine Wut zeigt.
Es ist sehr wichtig zu lernen, wie man den ganzen Gefühlsbaum aktiviert und alle Gefühle zur Verfügung hat, weil es sonst zu Verschiebungen kommt. Diese sind zum Einen für einen selbst unangenehm und zum Anderen senden sie falsche Signale an die Umwelt und sorgen für weitere Probleme.
Ein wichtiger Schritt ist es, für sich selbst einmal Wut und Aggressionen neu zu definieren. Wut ist oft negativ besetzt, insbesondere wenn wir in unserer Kindheit Bezugspersonen hatten, die anderen Menschen durch ihre Wut geschadet haben, sich nicht im Griff hatten und übers Ziel hinaus geschossen sind.
Wut und Aggressionen sind jedoch sehr wichtige Gefühle, um Grenzen zu setzen und Ziele zu verfolgen. Das Wort "Aggression“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet: etwas in Angriff nehmen. Wenn ich also täglich für einen Marathon trainiere, brauche ich dafür auch Aggressionen! Ohne Aggression gelingt nichts.
Grenzen setzen kann auch den Frieden bewahren. Dadurch, dass ich einen Zaun um mein Grundstück gezogen habe, wissen meine Nachbarn und Passanten, dass sie meinen Bereich nicht oder nur mit meiner Erlaubnis betreten dürfen. Wäre der Bereich frei zugänglich und fremde Menschen würden in meinem Garten zelten, Feuer machen oder in meinen Blumenbeeten Fußball spielen, würde es schnell zu Auseinandersetzungen kommen.
Das betrifft auch meine inneren Grenzen: Wenn ich anzeige, wo für mich eine Grenze ist, erspare ich mir und anderen Menschen langfristig auch Ärger und es gibt viel mehr Klarheit.
Um ein für Sie passendes und positives Bild für den Umgang mit Wut und Aggressionen zu finden, empfehle ich Ihnen, sich mal in Ihrem privaten und beruflichen Umfeld, aber auch in Büchern, Filmen und bei Prominenten (z.B. Politikern) umzusehen. Was halten Sie von Annalena Baerbocks Selbstsicherheit? Was von Donald Trumps Konfliktverhalten? Wer fällt Ihnen noch ein und wie beurteilen Sie ihn oder sie? Welcher Stil gefällt Ihnen?
Wen kennen Sie, der Ihrer Ansicht nach ein Vorbild ist und Grenzen setzen kann, die Grenzen anderer Menschen respektiert, kritisieren kann, ohne zu zerstören und verletzen, störende Dinge anspricht usw?
Wenn Sie ein Vorbild gefunden haben, fragen Sie sich doch mal, wie diese Person gewisse Probleme, die Sie haben, lösen würde und was er oder sie Ihnen raten würde.
Ich habe zum Beispiel eine sehr selbstsichere Kollegin, die immer wieder das Mantra herunterbetet: Sprich es doch an.
So habe ich mir ein Herz gefasst und einem Patienten zurück gemeldet, dass er nach Schweiß riecht. Das war unangenehm für mich! Aber danach habe ich mich befreit gefühlt, und außerdem hat mein Patient das Feedback sehr positiv aufgenommen!
Ich frage Menschen, die mich nicht verstehen oder die ich als ungerecht empfinde, häufiger mal: "Wie würdest du dich fühlen, wenn es anders herum wäre? Wenn du in meiner Position wärst?“ Meistens fällt dann der Groschen.
Und wenn mich etwas richtig nervt und eine Situation sehr komplex ist, schreibe ich mir meinen Ärger erst einmal ungefiltert von der Seele, mit Kraftausdrücken, untherapeutischen Du-Botschaften und keiner Zensur. Das tut richtig gut!
Gleichzeitig ist mir klar, dass diese Version der Ereignisse NIEMALS an die Öffentlichkeit gelangt, sondern in den Papierkorb.
Dann schreibe ich weitere Versionen, die immer differenzierter und ausgewogener werden, bis sie schließlich respektvoll und ruhig formuliert sind. Die Botschaft ist jedoch immer noch klar. Ich benenne, was mich stört und schlage eine Lösung vor (z.B. ein Gespräch, eine Klärung, einen Ausgleich).
Und manchmal ist das Geschehene auch so gravierend, dass dieser letzte Brief erklärt, warum ich die Beziehung (und sei es eine Geschäftsbeziehung mit einem Handwerker, einem Kollegen etc.) beendet ist.
Und dann entscheide ich, ob ich den Brief abschicke oder einfach dementsprechend handele, weil die Situation für mich geklärt ist (und ich einen neuen Handwerker beauftrage).
Sie haben die Erfahrung gemacht, dass es immer in einem Drama endet, wenn Sie Wut zeigen bzw. wenn Ihr Vater Wut gezeigt hat. Dadurch sind Sie sehr angespannt und erregt (und ängstlich), wenn es zu Situationen kommt, in denen Wut angebracht wäre.
Wenn Sie üben, klar und ruhig Ihren Ärger auszudrücken und die Situation dadurch verbessert wird (jedenfalls für Sie selbst) und Sie keinen Schaden anrichten, dann lässt auch die Erregung in solchen Situationen nach. Dann aktiviert sich der Wut-Ast in Ihrem Baum und die Energie fließt nicht mehr in die Angst.
Ich bin selbst auch viel weniger angespannt, wenn ich das Mantra meiner Kollegin befolge: "Sprich es doch an“. Denn ich habe es schon oft getan und es war für mich selbst immer gut und in den allermeisten Fällen für das Gegenüber auch konstruktiv.
Genau solche Dinge werden auch in Therapien geübt, z.B. in Rollenspielen, im gemeinsamen Suchen nach Lösungen und in anderen Übungen.
Ich wünsche Ihnen viele Erkenntnisse und Lernerfolge bei Ihrer Therapie und einen lebendigen Wut-Ast in Ihrem Gefühlsbaum!
Herzliche Grüße
Julia Peirano