Liebe Frau Peirano,
Es kommt mir selbst albern vor, aber ich hänge immer noch einer Liebe nach, die ich mit 20 Jahren erlebt habe. Jetzt bin ich 50!!!
Ich war als junge Medizinstudentin für einige Monate in Indien und habe in einem christlichen Krankenhaus in Alt-Delhi gearbeitet. Wie Sie sich sicher vorstellen können, war das eine sehr beeindruckende und prägende Erfahrung, die mich bis heute nicht losgelassen hat. Indien ist ein so extremes Land, voller Leben, überfordernd, bunt, laut, spirituell. Arm und reich treffen aufeinander, teil-weise brutal. Das ganze Leid im Krankenhaus, in den Slums, in den Lepra-Siedlungen. Die ganzen Eindrücke, Gerüche, Geräusche, die Musik, der Tanz, die Straßenszenen, das Zusammentreffen der Religionen, die Blumen und die Städte, es war faszinierend und erschreckend. Ich habe es gleichzeitig sehr geliebt und gehasst.
Dazu muss ich sagen: Ich komme aus einer gut situierten und liebevollen Familie, bin in der Münchener Vorstadt aufgewachsen, und plötzlich fand ich mich in Alt-Delhi wieder, unter Indern, als einzige Europäerin. In diesem ganzen Szenario begegnete ich einem christlichen Arzt (26), von dem ich mich sofort angezogen fühlte. Zwischen uns entwickelte sich eine Liebesgeschichte, die in Delhi, unter seinen Kollegen, mit denen ich auch befreundet war, noch in Ordnung war. Wir reisten dann aber nach meinem Praktikum noch einen Monat zusammen durch Indien, und da wurde es sehr kompliziert.
Wir besuchten seine Eltern in Südindien. Sie waren völlig schockiert von unserer Beziehung. Es gab einen Tag lang heftige Diskussionen (die ich nicht verstand) und dann brachen wir bei Nacht und Nebel auf, um einen Monat auf eigene Faust durch Indien zu reisen.
Wir reisten planlos durch das Land, abseits des Tourismus, weil er natürlich Einheimischer war und die Landessprachen konnte. Es war sehr, sehr intensiv. Heute denke ich, dass man die Geschichte verfilmen könnte. Das Intensivste waren die Szenen mit ihm. Seine Melancholie, seine Fürsorge, seine Sehnsucht nach Freiheit. Wir sangen zusammen, wir fotografierten, lasen in den gleichen Büchern, wir waren sehr zärtlich, wir stritten wegen kultureller Unvereinbarkeiten, wir redeten über unsere Kulturen und wir träumten, auch von einer gemeinsamen Zukunft.
Nach einem Monat war die Reise zu Ende und ich flog nach Deutschland. Wir versprachen uns, dass wir uns wiedersehen würden. Daran glaubte ich fest.
Und das war es. Seine Briefe (damals gab es kein Internet) waren am Anfang noch sehr zärtlich, dann kühlten sie ab und blieben aus. Zwei Jahre später bekam ich einen Brief, in dem er auf der Rückseite seiner Hochzeitsanzeige, die seine Eltern verfasst hatten, schrieb: Ich halte meinen Kopf hin, auch dir gegenüber. Seine Hochzeit war von seinen Eltern arrangiert.
Es war furchtbar. Ich war damals schon so weit, dass ich verstanden hatte, dass unsere Lebenswege nicht zusammen passten und wir nicht als Paar leben konnten. Das wollte ich auch nicht mehr. Aber mein dringendster Wunsch war, einen richtigen Abschied von ihm zu haben. Eine Umarmung, ein Gespräch, und uns gegenseitig loszulassen. Dazu war die Geschichte mit ihm viel zu wichtig. Das ist nicht geschehen. Niemals.
Ich träumte oft von ihm und weinte viel. Zwanzig Jahre lang. Auch nach der Geburt meines ersten Kindes erschien er mir im Traum und fragte mich, ob er jetzt gehen solle, wo ich eine Familie habe. Ich wachte tränenüberströmt auf.
Ich habe mittlerweile geheiratet und drei Kinder mit einem wunderbaren Mann (ein Engländer). Vor einem Jahr habe ich meinen Inder gegoogelt und habe endlich einen Treffer bekommen: In einem Film über sein Krankenhaus berichtet er, mittlerweile Mitte 50, von seiner Arbeit im ländlichen Indien, man sieht seine Frau (auch eine Ärztin), erfährt, dass die beiden zwei Kinder haben. Er ist nach wie vor bewundernswert in seiner Hingabe an die Patienten. Er hat viel Empathie und stellt sich selbst zurück, um anderen zu helfen.
Ich habe den Film wieder und wieder gesehen, und es ist mir ganz klar, dass ich die Geschichte mit ihm nicht fortsetzen will und schon seit vielen, vielen Jahren nicht wollte. Dennoch ist da etwas, das ich nicht fassen kann. Kann es sein, dass ER mich nicht loslässt, weil ich die einzige leidenschaftliche Liebe seines Lebens bin? Seine Ehe ist arrangiert, und vor mir hatte er keine andere Frau. Ist es doch nötig, nach all den Jahren, diese Geschichte abzuschließen und ihm zu schreiben? Doch davor habe ich Angst, denn ich könnte zurückgewiesen werden.
Aber irgendwie verstehe ich nicht, warum mich diese Geschichte nicht loslässt und mir sofort die Tränen in den Augen schießen, wenn ich daran denken. WARUM? Und halten Sie es für eine gute Idee, ihn anzuschreiben und die Geschichte abzuschließen?
Viele Grüße, Tanja G.
Liebe Tanja G.,
Es klingt nach einer sehr einmaligen, intensiven und besonderen Geschichte, die Sie als junge Frau erlebt haben. Nicht jeder hat das Glück, eine so intensive Liebe zu erleben. Ich kann mir vorstellen, dass diese Geschichte Sie in einiger Hinsicht damals emotional überfordert hat. Sie sind in geordneten Verhältnissen aufgewachsen, und vielleicht war Ihr Praktikum in Indien der erste Ausbruch aus Ihrer heilen Welt. Einen größeren Gegensatz hätten Sie sich nicht suchen können.
Die ganzen Eindrücke sind bestimmt überwältigend gewesen, und Sie hatten niemanden aus Ihrer Kultur dabei, mit dem Sie das teilen und verarbeiten konnten. Sie waren allein, auf sich gestellt. Und dann kam dieser indische Arzt in Ihr Leben, der aus einer völlig anderen Kultur stammt, mit anderen Spielregeln, und dem Sie durch Ihre Liebe sehr nah kamen. So ist einiges in Ihnen sehr durchlässig geworden, weil sie ihre Wurzeln für eine Zeit gekappt haben und sich ganz auf die indische Kultur eingelassen haben. Ohne Ihre Eltern, Ihre Freunde, ohne die Sicherheit Ihrer Heimat, ohne ein Korrektiv.
Sie schrieben, dass diese Liebe zu Ihrer gemeinsamen Zeit in Delhi noch "in Ordnung" war. Dort war Ihr indischer Freund weit entfernt von seinen Eltern und deren Erwartungen, und er konnte frei sein und sich ausprobieren. Wahrscheinlich hat die unerwartete, intensive Liebe zu Ihnen ihn auch aus der Fassung gebracht, denn er hat etwas gewagt, das für ihn ein großes Risiko war.
Ich gehe davon aus, dass seine Eltern von Anfang an angestrebt haben, ihren Sohn gut auszubilden (Mediziner) und dann mit einer passenden Frau zu verheiraten. Und was macht er? Er bricht aus und bringt Sie mit nach Hause - und verursacht damit einen Skandal und einen riesigen Konflikt mit seinen Eltern. Vielleicht auch, um ihnen zu zeigen: Ich habe meinen eigenen Willen, ich will lieben, wen ich will, und ich will frei sein. Er wird geahnt haben, was kommt: ein Eklat. Sie allerdings haben das damals anscheinend nicht geahnt, denn in Ihren kulturellen Spielregeln war es zwar ungewöhnlich, aber wahrscheinlich akzeptabel, dass Sie einen indischen Freund hatten. Sie durften, was er nicht durfte.
Auf der Reise mit ihm durften Sie beide träumen, lieben, reden und sich gegenseitig durch die fremden Augen einer völlig anderen Kultur anschauen. Es gab keine Eltern, kein soziales Umfeld, keine Realität, so dass Sie sich eine eigene Welt bauen konnten. Ich kann mir vorstellen, dass diese Erfahrung für Sie beide extrem intensiv und sehr ungeschützt war. Wahrscheinlich haben Sie sich später nie wieder erlaubt, so gedankenlos, ohne Sinn und Ver-stand zu lieben. Denn Sie beide haben viel riskiert (viel Gefühl!!!). Leider sind Sie beide danach ganz schön auf die Nase gefallen und haben einen hohen Preis für diese Liebe gezahlt.
Nach der Reise werden die Eltern Ihres Freundes alles versucht haben, um ihm Schuldgefühle zu machen und ihn auf den richtigen Weg zu bringen (eine passende indische Frau heiraten und Sie vergessen). Ich vermute, Ihre und seine Briefe sind aus dem Verkehr gezogen worden, es wird harte Worte gegeben haben, möglicherweise wurde auch die Kirche eingeschaltet, die in Indien einen hohen Einfluss hat. Und im Verlauf dieser Bekehrung wird Ihr indischer Freund alle Wünsche nach Freiheit und selbstbestimmtem Leben in sich getötet haben. Er hat sich dem Willen seiner Eltern gebeugt und hat den Lebensweg angetreten, den sie für ihn ausgesucht haben.
Jetzt, dreißig Jahre später, mag es sein, dass er in einigen Momenten noch von Ihnen träumt oder an die einzige Zeit in seinem Leben denkt, in der er frei war. Aber ich bin sehr skeptisch, ob er es Ihnen gegenüber zugeben würde. Wahrscheinlich würde er aus seiner Rolle des Arztes und treuen Ehemannes und fürsorglichen Familienvaters nicht herauskommen, wenn Sie sich bei ihm melden. Möglicherweise hat er in seinem Krankenhaus auch gar nicht die Privatsphäre dazu. Und so wäre die gewünschte Aussprache wahrscheinlich sehr gezwungen und ernüchternd und überhaupt nicht das, was Sie bräuchten, um die Geschichte gut abzuschließen.
Zudem könnte es sein, dass Sie durch das Internet (das im ländlichen Indien bestimmt nicht immer zuverlässig funktioniert) Kommunikationsprobleme bekämen. Und dann fragen Sie sich wie vor dreißig Jahren: Antwortet er nicht, weil er nicht will? Oder antwortet er nicht, weil meine Email nicht angekommen ist? Das wäre wirklich Gift für Sie, denn darunter haben Sie bereits genug gelitten!
Insofern würde ich Ihnen eher raten, ihn nicht zu kontaktieren, sondern diese besondere Liebe als kostbare und zugleich schmerzhafte Erinnerung zu behalten, die Ihnen zeigt, zu welcher Leidenschaft Sie fähig sind. Und Ihnen vor Augen hält, was passiert, wenn Sie alle emotionalen Schleusen aufmachen, ohne sich zu schützen. Die Geschichte hilft Ihnen sicher auch, sich lebendig zu fühlen.
Ich denke, dass es jetzt vor allem darum geht, die 20-jährige Tanja, die diese Geschichte erlebt hat, zu trösten und die Geschichte mit ihr behutsam abzuschließen. Sie sind jetzt erwachsen und haben selbst Kinder, vielleicht sogar annähernd in dem Alter, in dem Tanja damals war. Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie Sie mit Ihrer Tochter umgehen würden, wenn die solchen Liebeskummer hätte? Und genau das, was Sie mit Ihrer Tochter machen würden, sollten Sie mit sich selbst machen. Sich trösten, sich Zeit nehmen, sich die Dinge erklären und sich gut tun. Das hat Ihnen damals gefehlt, und es wird Ihnen sicher helfen, diese Geschichte sanft an einen kostbaren Platz zu legen. Und vielleicht gibt es ja auch etwas, das Sie von Ihrem indischen Arzt lernen und übernehmen wollen, schließlich sind Sie auch heute noch auf einer anderen Ebene von ihm beeindruckt.
Herzliche Grüße, Julia Peirano