Früher gehörte der gute Ton nicht in die Küche. Dort wurde geschrien, so laut, dass die Gläser klirrten. Gedemütigt, so sehr, dass manch einer daran zerbrach. Es galt das Motto: Wer keine Hitze verträgt, hat in der Küche nichts verloren. Mobbing und Ausbeutung gehörten an die Tagesordnung. Nur wer ein dickes Fell hatte, überlebte den Wahnsinn, überlebte die Gordon Ramsays und die Alfons Schuhbecks dieser Welt. Eine längst vergangene Zeit?
Wie die "Financial Times" in einem ausführlichen Bericht schildert, ist das Symptom, dass die Gastro-Szene einst überschattete, nicht kuriert. Es ist ein globales Phänomen geblieben - auch in Kopenhagen. Auch in dieser Vorzeigeszene. Wo die besten Köche der Welt etwas geschaffen haben, was keiner Nation vorher gelungen ist: Sie haben eine hyperlokale, umweltbewusste Lebensmittelbewegung ins Leben gerufen, die die ganze Welt bereichert hat.
Anführer der Bewegung waren zwei dänische Köche namens René Redzepi und Claus Meyer, die 2003 das Noma eröffneten. Das Restaurant verwendet nur Zutaten aus der nordischen Region. Eine Revolution zur damaligen Zeit. Schnell entwickelte sich Kopenhagen zum Food-Mekka. Nicht nur zum Essen, sondern auch zum Arbeiten. Hier begann etwas Neues, etwas Großes. Die Küchen waren offen. Nachhaltiges und ökologisches Kochen war hier ein Muss. Jeder wollte bei Redzepi kochen. Auch wenn das bedeutete, kein Geld zu verdienen, nicht 37 Stunden zu arbeiten sondern 70. Und das unter den widrigsten Bedingungen. Der Traum von der neuen Gastronomie, von neuen Denkern platzte schnell. Nur wird jetzt erstmals darüber gesprochen.
Kopenhagen: Missbrauch in allen Formen
Lisa Lind Dunbar hat 15 Jahre in dänischen Restaurants gearbeitet. Ein Instagram-Video, in dem ein Kellner in einem Sterne-Restaurant in Kopenhagen Champagner ausschenkte, hat sie getriggert, wie sie der "Financial Times" erzählt. Er hatte einen pistolenförmigen Aufsatz am oberen Rand einer Champagnerflasche angebracht und spritzte damit weiße, schäumende Weinstrahlen in den Mund eines Gastes und sagte "auf die Knie". Das hat Dunbar provoziert und all den Schmerz aufkeimen lassen, den sie in den letzten Jahren in der Gastronomie erlebt hat. Sie startete also einen anonymen Aufruf und bat Kolleg:innen von deren Erfahrungen zu berichten. Was könnte schon passieren, dachte sie sich? Sie trat damit eine Lawine los. Eine Art „Me too“-Bewegung. Es prasselten Geschichten herein über Missbrauch in allen Formen: Sexismus, Rassismus, Homophobie, Mobbing, gefährliche Arbeitsbedingungen. Eine Person erzählte über einen Koch, der die Telefone seiner Mitarbeiter in die Fritteuse warf. Eine andere über einen prominenten Sommelier, der sie sexuell belästigt habe. Über einen Koch, der eine Waffe in seiner Schublade aufbewahrte, um Ratten im Aufzug seines Restaurants zu erschießen. Die Liste könnte endlos weitergeführt werden. Aber wieso kommen diese Dinge erst jetzt zu Tage?
Die Antwort lautet wie auf so vieles: Angst. Dunbar sagt, Kopenhagen sei klein. Jeder kennt jeden. Wer einmal schlecht über einen Küchenchef spricht, kommt auf eine Art schwarze Liste. Das Netzwerk ist groß. Arbeit im gleichen Umfeld zu finden, wird dann schwer. Es gibt eine stille Übereinstimmung: Man schweigt. Der Stolz der Food-Szene in Kopenhagen geht über alles. Loyalität ist Gesetz. Die Küchenchefs und Restaurantbetreiber appellieren an ihr Team immer wieder, dass sie eine Familie seien. Aber welche Form von Familie? In Kopenhagen entpuppt sie sich als patriarchale Struktur, mit einem Vater, der seinen Kindern sagt, was sie zu tun haben.
Das Problem ist die Gastronomie selbst
Das Problem ist nicht allein das Noma, das Praktikant:innen bisweilen nicht bezahlte. Das Mitarbeiter:innen ausbeutete, die schon mal drei Monate nur Kräuter rupfen durfte, obwohl ihnen eine ganzheitliche Erfahrung versprochen wurde. Das Problem ist die Gastronomie selbst, sagt Dunbar. Ein System, das auf schlecht bezahlte Arbeitskräfte angewiesen ist. Das eine Kultur der Angst prägt und das Leben der Arbeiter:innen langsam untergräbt. Wenn die Mitarbeiter:innen nach getaner Arbeit weinen, der Gast und der Küchenchef aber zufrieden sind, wen interessiert es dann, was sich hinter den Kulissen abspielt?
Dunbar und ihr Anstoß sind erst der Anfang. Wie gut kann ein 200-Euro-Essen jetzt noch schmecken, wenn man nicht genau weiß, wie viele Tränen, wie viel Schweiß, wie viel Demütigungen es dafür gebraucht hat? Der Nachgeschmack bleibt bitter.