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20 Jahre Pogrom von Lichtenhagen Als rechte Gewalt beklatscht wurde

August 1992, Flammen lodern aus dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. Die Menge klatscht und die Polizei schaut zu. Noch immer gibt es kaum Antworten, wie es zu dem Pogrom kommen konnte.
Von Manuela Pfohl

36 Grad. Die Hitze des späten Augustnachmittags hat sich drückend auf Rostock gelegt. Die Straßen draußen im Plattenbauviertel Lichtenhagen sind wie leergefegt. Auf der großen Wiese vor dem Sonnenblumenhaus zirpen Grillen, eine Katze blinzelt schläfrig von einem zerfledderten Sessel auf einem Sperrmüllhaufen in die Sonne.

Nur im "China-Imbiss" auf der anderen Seite des massigen Hochhauses herrscht munteres Treiben. In dem winzigen Imbisswagen brutzeln Chinapfanne und Dönerspieß. Unter einem Sonnendach davor hat ein Dutzend Vietnamesen seine Plastikstühle zusammengeschoben und schwatzt. Doch die Gespräche reißen abrupt ab, als Fremde sich nähern. In jüngster Zeit kommen sie wieder öfter, die Neugierigen, die Politiker, die Journalisten und natürlich auch die Nazis. Der Grund: Ende August 1992 hatte ein Mob mehrere Tage lang das Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen belagert und schließlich in Brand gesetzt. In dem Gebäude war die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (Zast) untergebracht. 250 Menschen hätten dort maximal leben können. Tatsächlich aber versuchten damals mehr als 600 Asylbewerber eine Unterkunft in der Zast zu finden. Die meisten von ihnen campierten notgedrungen auf der Wiese vor dem Gebäude.

Als sich am 24. August die Flammen der Molotowcocktails durch die Etagen fressen, können sich 115 Vietnamesen, deren Wohnheim ebenfalls in zwei Aufgängen des Hauses untergebracht ist, nur mit Mühe und in letzter Minute über das Dach des zehn Etagen hohen Hauses retten. Unten johlen rund 500 Nazis: "Ausländer raus." Fast 2000 Schaulustige klatschen Beifall, während die Polizei stundenlang untätig zuschaut. Tuyet Pham steht gemeinsam mit ihrem Freund am Fenster ihrer Wohnung im 5. Stock und beobachtet von oben, wie unten Steine und Flaschen gegen das Haus fliegen. Irgendwann steigt Rauch auf. Die Kantine in der ersten Etage brennt. Als Tuyet Pham jetzt, 20 Jahre später, der "Ostseezeitung" von diesem Tag berichtet, werden Erinnerungen an die dramatische Situation von damals wach.

"Wir hatten Todesangst"

Die hochschwangere junge Frau ist zusammen mit den anderen Vietnamesen, einem Fernsehteam des ZDF, dem ehemaligen Ausländerbeauftragten der Stadt und einigen anderen Rostockern auf sich allein gestellt. Denn lange Zeit sind weder Polizei noch Feuerwehr zu erreichen. Irgendwann am Montagabend, als die Randalierer schon bis in den dritten Stock vorgedrungen sind, und mehrere Wohnungen in Flammen stehen, gelingt es den Bedrängten, mit einem Brecheisen die Verriegelung der Dachklappe zu öffnen und durch die schmale Luke auf das Dach zu gelangen. "Wir hatten alle Todesangst", erinnert sich Tuyet Pham. Vier Aufgänge weiter finden sie schließlich eine offene Luke, durch die sich wieder nach unten klettern können. Hier, wo die Deutschen wohnten, hat der Mob nicht gewütet. "Eine Familie hat uns zu trinken gegeben und Kekse", berichtet die heute 49-Jährige der "Ostseezeitung". Dann warten sie auf die Polizei und die Busse, die sie wegbringen würden. Weg von den Nazis und weg vom Mob, der die Straßen fast eine ganze Woche lang beherrschte.

Martin K.* war damals 19 Jahre alt. Zusammen mit seinen Freunden aus der linken Szene hatte er tagelang versucht, etwas gegen den offenen Rassismus zu unternehmen, der sich schließlich vor dem Sonnenblumenhaus entlud. Doch als die Angriffe am Sonntag eskalieren und Martin K. und etwa 300 Unterstützer gegen Mitternacht nach Lichtenhagen fahren, treffen sie dort auf rund 500 gewalttätige Neonazis und fast 2000 Schaulustige. Die Wiese ist voll mit Pflastersteinen, beißender Geruch von brennenden Autos und Mülltonnen liegt in der Luft. Kurzzeitig erobern die Antifas das Terrain und entschließen sich, eine Demo im Viertel zu machen. Erst da rückt eine Hamburger Hundertschaft der Polizei an - um die linken Aktivisten einzukesseln und etwa 60 von ihnen vorläufig festzunehmen. Auch Martin K. landet im Polizeigewahrsam. Als er am Montag gegen 17 Uhr entlassen wird, ist die Zast unter dem johlenden Beifall der Schaulustigen und der Nachbarn schon geräumt worden. An die Vietnamesen, die im Wohnheim im Sonnenblumenhaus leben, denkt keiner. Dass sie in der folgenden Nacht um ihr Leben kämpfen würden, ahnt niemand.

Ernste Krise der Demokratie

Am Tag danach ist das Entsetzen der Zivilgesellschaft groß. Bundesweit wird darüber berichtet, die Kritik an der Polizei ist massiv. Erst recht als der damalige Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern zynisch erklärt, dass offenbar keine Lebensgefahr bestanden habe, schließlich habe keiner der Vietnamesen nach der Rettung ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Als auch noch bekannt wird, dass der zuständige Polizeichef sich trotz der Eskalationen ins Wochenende und zu einer Party verabschiedet hatte, ist die Konfusion komplett. Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen gehen als ernste Krise der Demokratie in der ostdeutschen Nachwende-Zeit in die Geschichte ein. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Konflikt um das Sonnenblumenhaus ein Versagen der Politik offenbarte, das nicht überraschend kam.

Die soziale Situation in Rostock ist zu Beginn der Neunziger angespannt. 1992 sind 53.000 Arbeitslose in der Stadt registriert. Gleichzeitig suchen Menschen aus den anderen ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten ihr Heil im neuen wiedervereinigten Deutschland. Immer häufiger ist der Spruch zu hören: "Das Boot ist voll." Die Nerven bei den Anwohnern in Lichtenhagen liegen blank. Weil die Asylbewerber weder genug Verpflegung noch Geld haben, nehmen Diebstähle im Viertel rasant zu. In Ermangelung mobiler Toiletten wird die Umgebung des Sonnenblumenhauses zur offenen Kloake. Als die Stadt sich weigert, etwas gegen die immer unhaltbareren Zustände zu unternehmen, und die Nachbarn rund um das Sonnenblumenhaus irgendwann nicht mehr willens und in der Lage sind, die Situation zu verkraften, bekommen die Neonazis leichtes Spiel - und nutzen die Gunst der Stunde. Es braucht nach 1992 einige Zeit, ehe das Image Rostocks wieder aufpoliert ist.

Ein Schlag ins Gesicht

Jetzt, 20 Jahre nach dem Pogrom, soll mit verschiedenen Aktionen an die Ereignisse erinnert und die demokratische Entwicklung gefeiert werden. Doch noch immer scheint es keine Einigkeit darüber zu geben, wie das Ganze aussehen soll. Im Vorfeld einer Demonstration am 25. August in Rostock-Lichtenhagen versucht Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) das antirassistische Bündnis "20 Jahre nach den Pogromen – Das Problem heißt Rassismus" zu kriminalisieren. Er befürchte "linksextremistische Übergriffe". Deshalb werde ein Großaufgebot der Polizei vor Ort sein. "Es wird nicht passieren, dass wir zu wenige Einsatzkräfte haben. Da bin ich ein gebranntes Kind", wird Caffier zitiert.

Für die Organisatoren der Demo ist das ein Schlag ins Gesicht. "Mit dieser Anspielung auf das Polizeiversagen von 1992 stellt Caffier den antirassistischen Protest bewusst auf eine Stufe mit Pogromen von Nazis und Rassisten. Der Minister sollte noch einmal darüber nachdenken, wer vor 20 Jahren in Rostock-Lichtenhagen tobte: Nazis und ein rassistischer Mob und nicht Linke."

Bundespräsident Joachim Gauck will auf der zentralen Gedenkveranstaltung am Sonnenblumenhaus eine 20 Jahre alte Deutsche Eiche pflanzen. Die Neonazis mobilisieren im Internet zu einem "Fest der Begegnungen" und die meisten Vietnamesen haben keine Lust mehr, irgendetwas zu berichten.

*Name von der Redaktion auf Wunsch geändert

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