"Ein Stern, der Deinen Namen trägt, hoch am Himmelszelt. Den schenk' ich Dir heut' Nacht. Ein Stern, der Deinen Namen trägt, alle Zeiten überlebt und über unsre Liebe wacht." So schön kann das Leben sein in einem Lieblingslied. Petra H. summt es manchmal leise, wenn sie traurig ist. Ihr selbst würden solche Sätze nie einfallen. "Da hab' ich keine Ader für", sagt die 42-Jährige. Irgendwie waren immer andere Sachen wichtiger. Die Kinder groß kriegen, einen Job suchen, jahrelang ihren kranken Mann pflegen und immer wieder das verdammte Geld ranschaffen. Denn davon gab es nie genug. "Da haste einfach keine Nerven mehr für was anderes." Petra H. lebt in Rostock. Sie hat drei Töchter, 24, 18 und 11 Jahre alt. Ihr ganzer Stolz. Seit ihr Mann vor zwei Jahren an Krebs gestorben ist, sind die Mädels das einzige, was Petra H. noch hat. Schon 1992 ist sie arbeitslos geworden, als im Fernsehen noch von blühenden Landschaften die Rede war und die Nachbarn sich große Autos kauften. Aber eine Lagertransportarbeiterin mit Schuppenflechte, Rheuma und zwei kleinen Kindern, die brauchte schon damals keiner. Und deswegen gab es auch kein Geld und kein großes Auto und keinen Stern des ewigen Glücks.
"Das geht schon irgendwie"
Jetzt kriegt Petra H. Hartz IV. Rund 250 Euro bleiben ihr monatlich nach Abzug aller Kosten. Für sich und Conny-Isabell, ihre Jüngste. "Viel anfangen kann man damit nicht. Das merk' ich immer, wenn ich einkaufen gehe. Da ist der Wagen noch nicht mal voll und 50 Euro sind weg. Es wird ja auch immer alles noch teurer. Grade für die Kinder. Mit elf Jahren fangen sie schon an, ihre eigenen Wünsche zu haben und immer Nein zu sagen, fällt ganz schön schwer." Da verzichtet Petra H. lieber selbst auf etwas. Zwei Euro für ein T-Shirt, teurer darf es nicht sein. Einmal in der Woche Obst und alle drei, vier Wochen mal ein Steak und Thüringer Klöße - das muss reichen. "Das geht schon irgendwie."
Den aktuellen Armutsbericht, den die Bundesregierung jetzt vorgestellt hat, kennt Petra H. nicht. Wozu auch. Sie erlebt ja seit Jahren, worüber die Wissenschaftler schreiben. 13 Prozent der Deutschen sind laut Bericht von Armut betroffen. Das heißt, sie haben weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens der Deutschen zur Verfügung. Die Schere zwischen denen, die als reich gelten und jenen, die wie Petra H. auf Sozialleistungen des Staates angewiesen sind, wird immer größer. Die Politiker mit ihren Sprüchen könnten mal bei ihr vorbeikommen, sagt Petra H. Sie würde ihnen sagen, wie man kämpfen muss, wenn man kaum mehr etwas zum Ausgeben hat und Kinder, die einen brauchen, wie Conny-Isabell.
"Die Lütte soll es besser haben"
Aus der Lütten soll mal was Ordentliches werden. Damit sie es besser hat im Leben. Besser als ihre Mutter, die in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem Plattenbau sitzt, manchmal Depressionen hat und dann einfach aufhört zu essen.
Wie vor zwei Monaten, als die Rheumaschmerzen mal wieder so schlimm waren, dass sich Petra H. kaum noch rühren konnte und ihr der ganze Haushalt über den Kopf wuchs. "Da blieb mir nichts anderes übrig, als dem Jugendamt zu sagen, dass es sich vorübergehend um das Kind kümmern soll. Ich konnte einfach nicht mehr." Als Conny-Isabell dann weg war, in einer WG vom Amt und die Betreuerin sagte, dass es eine Weile dauern wird, ehe das Mädchen wieder nach Hause kommt, kam die große Traurigkeit und die Leere und das Gefühl, nichts mehr essen zu können. So lange, bis es den Menschen Petra H. und seinen Kummer einfach nicht mehr gibt.

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Alle haben eigene Sorgen
Natürlich könnte sie darüber reden, was sie bedrückt. Aber mit wem denn? Mit den Nachbarn, die sie nicht kennt? Mit der Fallbetreuerin auf dem Arbeitsamt oder mit denen, die mittwochs wie sie Schlange stehen und auf die Verpflegungspakete der Rostocker Tafel warten? "Das kannste vergessen", sagt Petra H. "Das bringt ja nichts. Und überhaupt, die Leute haben ja auch alle ihre eigenen Sorgen."
Bei Petra H. fing das mit den Sorgen schon an, als sie noch Kind war, zu Hause in Weimar. "Ich hab noch sieben Geschwister. Meine Eltern haben viel getrunken und dann gab es oft Prügel. So war das bei uns. Da hat es keinen interessiert, dass ich gern weiter zur Schule gegangen wäre. Da war noch vor der achten Klasse Schluss. Da musste ich Geld verdienen und fertig."
Keiner wollte sie haben
Vielleicht wäre alles anders gekommen, vielleicht hätte sie jetzt mehr Chancen und eine Zukunft, wenn sie einen Abschluss gemacht hätte. "Ich war immer schon gerne mit Tieren zusammen, das wär' was gewesen. Sowas hätte ich gerne gemacht." Nach der Wende hat Petra H. es noch mal versucht, ihren Traum zu verwirklichen. Sie hat sich für einen Kurs an der Volkshochschule angemeldet, um die achte Klasse nachzuholen. "Aber das Arbeitsamt meinte, es wäre besser, wenn ich einen Lehrgang mache, in dem ich lerne, mich richtig zu bewerben. Naja, und eins ging nur, ich hatte ja auch noch die Kinder, und da habe ich eben keine Schule gemacht." Die schicken Bewerbungen haben ihr später nichts genutzt. Es wollte sie trotzdem keiner haben.
"Es gibt ja seit Jahren viel zu viele Arbeitslose in Rostock. Das ist doch nicht mehr normal." Petra H. mag schon gar nicht mehr fernsehen oder Zeitungen lesen. "Es ist ja immer dasselbe. Die Politiker reden und passieren tut nichts. Auch meine Mädels haben noch nichts Festes gefunden. Dabei sind das junge gesunde Leute, die jeden Job annehmen können." Petra H. hingegen kann kaum noch was machen. "Vor vier oder fünf Jahren hat mich der Arzt im Auftrag vom Arbeitsamt durchgecheckt und gesagt, das einzige, was ich gesundheitlich noch machen könnte, ist Pförtner." Aber Pförtner sind nicht gefragt. Was soll man da machen. "Da kannste dich hinsetzen und verzweifeln, oder du kannst dich selbst aus dem Modder zu ziehen." Petra H. hat es immer wieder versucht. Ein dutzend Mal oder mehr. Die Idee mit dem Single-Chat gehört dazu.
"Mein Name ist Wölkchen"
Seit einiger Zeit ist sie jeden Abend im Chat unterwegs. Das ist wie eine andere Welt. Sie schaltet den PC an, macht es sich gemütlich und meldet sich an: "Wölkchen 1966". Ihr Name, leicht und unbeschwert. "Hier kann ich mich über alles unterhalten. Mit meinesgleichen und da gibt es auch keine Probleme. Da sag ich einfach, was los ist und gut."
Die große Liebe hat Petra H. über den Chat zwar nicht gefunden, aber immerhin hat sie die anderen kennengelernt, mit denen sie vergangenes Jahr den Verein "Zurück in Arbeit" gegründet hat. Hilfe zur Selbsthilfe, zu der eine ganz praktische Klamottentauschbörse und die Unterstützung bei Behördenzoff ebenso gehören, wie das Basteln an gemeinsamen Jobprojekten. Darüber hinaus tut es gut, wenn jemand einfach mal da ist, der die Sehnsucht nach Glück teilt und die Sorgen um die Zukunft für Conny-Isabell.
Das ist so, wenn man arm ist
Immer mittwochs um 19 Uhr darf Petra H. mit ihrer Tochter telefonieren. Und samstags kann sie sogar einen ganzen Tag mit ihr verbringen. Jedes Mal nimmt sie sich vor, das Treffen ganz besonders schön zu machen. Die Lütte soll ja nicht merken, dass es ihr das Herz zerreißt, bei dem Gedanken, dass am Abend alles wieder vorbei ist. Dass sie alleine nach Hause gehen muss, ohne Conny-Isabell und ohne eine Vorstellung, wann das endlich mal aufhört, mit den ganzen Problemen.
"Meistens gehen wir am Mutter-Tochter-Tag zu Freunden, die einen kleinen Garten haben. Jeder bringt was zu essen mit und dann genießen wir die Zeit." Nur ins Kino oder ins Kinderland, oder mal schön essen gehen oder in den Urlaub fahren, oder die tollen Turnschuhe kaufen, oder sich auf dem Rummelplatz vergnügen, oder einfach mal das Leben genießen können die beiden nicht. "Das kann sich ja keiner leisten. Das ist nicht drin. Das muss Conny-Isabell begreifen. Das ist eben so, wenn man arm ist."