Der Sturm der Entrüstung will nicht enden. Selten wohl waren sich Politik und Kirche in Italien so einig: Auch noch Tage nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes gegen das Kruzifix in einer Schule des Stiefelstaates herrschen Bestürzung, Ablehnung und Kopfschütteln vor. Man müsse am "gesunden Menschenverstand Europas zweifeln", so meint Ministerpräsident Silvio Berlusconi zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Und die renommierte katholische Zeitung "Avvenire" prangert die Richter am Donnerstag an, weil sie mit ihrem Spruch Feindseligkeiten gegen das Kreuz eröffnet hätten: "So wird Europa zum Niemandsland." Auch wenn es zunächst nur um Italien geht, ist letztlich Europa betroffen - warnt der Vatikan.
Ein Kreuz im Klassenraum einer staatlichen italienischen Schule verletzt dem Straßburger Urteil zufolge die Religionsfreiheit der Schüler. Betroffen ist ein Land, in dem der Katholizismus zutiefst verankert ist und das eine lange gemeinsame Geschichte mit der Kirche und ihren Päpsten hat. Deshalb hatten die Obersten Verwaltungsrichter Italiens 2006 auch gegen jene aus Finnland stammende Norditalienerin entschieden, die das Kreuz in den Klassenräumen ihrer Kinder störte. Und die daraufhin nach Straßburg zog, weil sie in Rom abgewiesen worden war. Das Argument der Richter damals: Das Kreuz ist heute ein Symbol für die Werte Italiens und des Staates, zumal die katholische Religion als einzige auch in der Verfassung des Landes genannt wird.
Als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe 1995 gegen Kreuze in bayerischen Volksschulen entschieden hatte, machte in Rom der damalige Präfekt der Glaubenskongregation und heutige Papst Joseph Ratzinger dagegen Front. Was Papst Benedikt XVI., schon lange tief besorgt über die "Säkularisierung" in der Alten Welt, nun von dem jüngsten Urteil hält, liegt auf der Hand. Sein Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone hat schon kommentiert: "Dieses Europa des 3. Jahrtausends nimmt uns die wertvollsten Symbole weg und lässt uns nur noch die Kürbisse des Halloween-Festes."
Für "Avvenire" wäre es, als entferne man Buddha von den öffentlichen Plätzen Asiens: "Ein gewisses Europa verrät so sich selbst und die eigenen Wurzeln, und es öffnet eine Wunde in der eigenen Seele."
Während kaum jemand in Italien dem Straßburger Urteil etwas abgewinnen kann, setzt der Vatikan auf die Regierung. Rom geht mit einer Beschwerde gegen das Urteil vor. Wenn diese nicht durchkommt, müssten die Kruzifixe abgenommen werden. Für Berlusconi, der sich in den Monaten der Schlagzeilen zu seinem Privatleben herbe Kritik von der Kirche hatte anhören müssen, ist das eine Gelegenheit. Er kann sich als Frontmann in der Verteidigung christlicher Werte beweisen. Und er liegt auch noch richtig, wenn er daran erinnert, dass Italien und das Christentum eins sind - auch wenn der römische Katholizismus seit nunmehr einem Vierteljahrhundert nicht mehr Staatsreligion ist.
Bleibt offen, wieweit der Rechtsstreit auch andere europäische Staaten etwas angeht. "Diese Sache betrifft nicht nur Italien", so mahnte Bertone bereits. Das Urteil von Straßburg habe für deutsche Schulen keine Folgen, betont dagegen die deutsche Bischofskonferenz. Der Vatikan hat aber alle Christen Europas ermuntert, sich gegen das Urteil zu wehren - zumal das Gericht festgehalten hat, sein Verdikt gelte zwar Italien, sei aber "auch für andere Staaten interessant". dpa ka xx a3 zi 051235 Nov 09