"Ich bin bereit", sagte Kevin Spacey im Mai im Gespräch mit dem "Zeit Magazin". Er meint die Zeit nach seinem Prozess. "Sobald ich in London freigesprochen werde, werden mir bestimmte Leute wieder Rollen anbieten. Noch in derselben Minute!"
Es ist wohl die tiefsitzende Überzeugung, die Arroganz mächtiger Männer, die aus ihm spricht. Es dürfte auch die Erfahrung sein, die diese Gesellschaft lehrt, sechs Jahre nach Beginn von #MeToo.
Mehrere Männer warfen Spacey sexuelle Übergriffe vor, in einem Fall sexuelle Nötigung. Sie alle standen zum Zeitpunkt der Vorwürfe am Anfang ihrer Karriere, er war bereits der mächtige Schauspieler und Künstlerische Direktor des Londoner Theaters "Old Vic". Die Männer berichten unabhängig voneinander von einem Muster: Spacey soll seine Hand über den Oberschenkel geführt und ihnen ins Geschlecht gegriffen haben.
Am Mittwoch wurde Spacey von einer Jury in London freigesprochen. Der Schauspieler hatte die Vorwürfe abgestritten, sprach von einvernehmlichem Sex und "romantischen" Berührungen.
Jahrzehntealte Begegnungen und mutmaßliche Übergriffe lassen sich vor Gericht nur schwer nachweisen. Am Ende scheinen die Zweifel für die Jury überwogen zu haben. Eine Frage bleibt: Glaubt man den Opfern, oder dem Täter?
Im Zweifel für den (mächtigen) Angeklagten
Vorsicht ist berechtigt. Jeder Mensch muss durch das Gesetz so gut wie möglich vor falschen Beschuldigungen geschützt werden – im Zweifel für den Angeklagten ist einer der wichtigsten Grundsätze im Strafrecht. Ich weiß, dass das richtig ist. Aber manchmal fühlt es sich einfach falsch an. Freispruch heißt nicht gleich Unschuld, schrieb stern-Redakteurin Dagmar Seeland treffend.
Der mutmaßliche Täter wird vor Gericht wegen einer unzureichenden Beweislage freigesprochen. Das Opfer wird am Ende gesellschaftlich schuldig gesprochen. Diejenigen, die bereits ein entwürdigendes Verfahren hinter sich gebracht haben, werden im Nachhinein angezweifelt, der Lüge bezichtigt, im schlimmsten Fall schlägt ihnen Verachtung entgegen. Beispiele gefällig?
Brett Kavanaugh wurde von der Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford 2018 unter Eid der versuchten Vergewaltigung bezichtigt – kurze Zeit später wurde er als Richter am höchsten Gericht der Vereinigten Staaten vereidigt, dem Bundesverfassungsgericht. Ford bekam Morddrohungen und musste deshalb mit ihrer Familie umziehen.
Rammstein und insbesondere Sänger Till Lindemann werden von zahlreichen Frauen bezichtigt, sich übergriffig verhalten zu haben. Die Bandmitglieder bestreiten das. Während Rammstein in diesen Tagen eine ausverkaufte Europa-Tournee spielen, müssen die wenigen namentlich bekannten, mutmaßlichen Opfer die derbsten Verleumdungen über sich lesen.
76. Filmfestspiele eröffnet: Johnny Depp feiert in Cannes sein Comeback – und die Feministinnen wüten
Unvergessen ist wohl einer der publikumswirksamsten Prozesse der letzten Jahre. Johnny Depp und Amber Heard stritten sich monatelang vor Gericht, weil Heard sich in einem Zeitungsartikel als Opfer häuslicher Gewalt bezeichnete. Depp klagte danach wegen Verleumdung. Erfolgreich. Dabei hatten beide Seiten leider oft und explizit bewiesen, wie schmerzhaft und toxisch diese Beziehung für beide Parteien gewesen sein muss.
Die Konsequenzen könnten unterschiedlicher nicht sein. Während sich Heard, die gerade noch am Anfang ihrer Karriere gestanden hatte, monatelang in Spanien versteckte, stand Depp wenige Monate später auf dem Roten Teppich in Cannes und wurde unter Standing Ovations bejubelt. Obwohl beide verurteilt wurden und sich gegenseitig eine Entschädigung bezahlen mussten, daran sei an dieser Stelle nochmal erinnert.
Auch Spacey wird womöglich in absehbarer Zeit auf der größeren Leinwand zurück sein.
Das Opfer zieht den Kürzeren
Die angeführten Fälle sind allein bezogen auf den Tatbestand nicht unmittelbar vergleichbar. Doch zeigen sie eine Tendenz, die einem als junge Frau Sorge bereiten kann: Der mächtige Mann gewinnt eh. Gleichzeitig muss sich das mutmaßliche Opfer wortwörtlich nackt ausziehen, retraumatisierende Befragungen hinter sich bringen – sich zum Teil mit einer Öffentlichkeit auseinandersetzen, die von Lüge und "sich in den Vordergrund drängen" spricht. Dabei tut sich das kaum jemand freiwillig an.
Ich habe keine bessere Lösung für die Rechtssprechung. Das ist auch, was mich so hilflos macht. Trotzdem stelle ich mir die Frage: Was wird aus denen, die sich mit diesen (mindestens sozial) Geschädigten identifizieren können? Denen, die im Alltag sexistischen Sprüchen und Grenzüberschreitungen von Männern ausgesetzt sind, die sich durch solche Urteile ermutigt sehen? Ist das auch "romantisch"? Begrifflichkeiten wie diese verklären Situationen, in denen zu viele Frauen und andere Betroffene permanent ihre Grenzen verteidigen müssen.
Opfer sexueller Gewalt überlegen schon jetzt dreimal, ob sie eine Tat tatsächlich anzeigen wollen, oder nicht. Die neueste Dunkelfeldstudie des Bundeskriminalamts kam im November 2022 zu dem Schluss, dass lediglich ein Prozent der Sexualstraftaten in Deutschland angezeigt wird. Öffentliche Prozesse wie die gegen Kevin Spacey dürften nicht gerade ermutigend auf die übrigen 99 Prozent wirken.
Spacey sei "dankbar und demütig", sagte er nach dem Prozess. Gedemütigt bleiben die mutmaßlichen Opfer. Im Zweifel für den Angeklagten, dazu gibt es keine Alternative. Doch was ist mit den Betroffenen?
Quellen: "Zeit", Bundeskriminalamt