Wenn Roberto Lauricella aus dem Fenster seines Restaurants blickt, sieht er zerstörte Garagen. Die Straßenlaternen daneben laufen über einen Generator, der permanent laut brummt. Es gibt noch keinen richtigen Stromanschluss.
Die Spielplätze: verwaist. An einem kleinen Nebenfluss der Ahr türmen sich Schlammmassen, es stinkt bestialisch. "So sehr, dass man wirklich Kopfschmerzen bekommt. Die Flut ist in unseren Gedanken immer präsent", sagt er. "Wo nur anfangen?" Das ist für ihn im Januar 2022 die wichtigste Frage.
Lauricella gehörte eine gut laufende Pizzeria in Bad Neuenahr-Ahrweiler in Rheinland-Pfalz, das "Ristorante La Concordia". Die Corona-Krise hatte ihn über Monate gebeutelt. Die Zeit des Lockdowns nutzte er, ließ das Lokal neu streichen, renovierte den Küchenbereich und kaufte Geräte für mehr als 20.000 Euro. Dann kam die Katastrophe – und zerstörte die Existenz der Familie.
Pizzabäcker rettet Nachbarn
Roberto Lauricella hat die Bilder im Kopf aus jener Nacht zum 15. Juli 2021. Mit seiner Mutter, 73 Jahre alt, und seinem Vater, 82, war er eingeschlossen im Restaurant. In Sekunden stieg das Wasser. Mit Mühe konnten sie sich retten.Drei weiteren Menschen hat Roberto Lauricella in dieser Nacht geholfen, Nachbarn aus dem Wasser gezogen. Er spricht nicht mehr oft darüber. "Ich muss funktionieren", sagt er. Er ist zweifacher Vater, kümmert sich um die Eltern, um Förderanträge, Versicherungsgutachten.
Fünf Wochen nach der Flutkatastrophe: So sieht es jetzt im Ahrtal aus

"Die eigentliche Katastrophe begann für mich erst nach dieser Nacht", sagt er heute.
Sein Restaurant ist geschlossen. Aus einem kleinen Container verkauft er nun Pizza. Für ihn ist es die Rückkehr in eine Normalität, die es nicht mehr gibt. Gespräche mit seinen Kundinnen und Kunden sind für ihn eine Art Therapie. Und ein Zeichen nach außen: "Wir sind noch da. Wir geben nicht auf. "
"Letztes Wochenende", erzählt er, "standen an jedem Tag mindestens vier Leute vor uns, die geweint haben, die gesagt haben: Ich kann nicht mehr. Es herrscht gerade eine ganz deprimierende und traurige Stimmung hier." Letzte Woche, erzählt er, sei eine junge Frau bei ihm am Stand gewesen, die er in der Nacht der Katastrophe gerettet hatte: Sie saß auf dem Fensterbrett, als das Wasser bereits meterhoch auf den Straßen stand und flehte, dass er sie herausholen sollte. Vielleicht war es Vorahnung, vielleicht nur eine Corona-Krisen-Laune, aber eines Tages während des Lockdowns hatte sich Lauricella eine "Notfallkiste" im Internet bestellt. Zum Inhalt gehört ein Fünf-Meter-Verlängerungskabel. Lauricella knotete sich das Kabel um die Hüfte, warf das andere Ende seiner Nachbarin zu, stemmte er sich gegen das Terrassengeländer und zog sie durch die gurgelnde Brühe zu sich. Sechs Monate hatten sie sich nicht mehr gesehen, nun fiel sie ihm an seinem Pizza-Container in die Arme. Sie ist mittlerweile weggezogen. Für Lauricella keine Option. Er träumt davon, sein Restaurant wiederzueröffnen. Das Ahrtal ist für ihn Heimat – und umso mehr schmerzt es ihn, die tiefen Wunden zu sehen, jeden Tag.

Wenn der Regen aufzieht, kommt die Angst. Ein paar dunkle Wolken am Himmel und schon sind die Erinnerungen zurück.
Stundenlang prasselte der Starkregen am Nachmittag des 14. Juli herab. Bis zu 150 Liter pro Quadratmeter. Sanfte Bäche schwollen zu reißenden Flüssen an, Dörfer und Städte versanken im Wasser.
Die Bilanz der Flutnacht, die Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen am stärksten traf, aber auch Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen: 184 Menschen starben – die meisten an der Ahr. Das jüngste Todesopfer war vier Jahre alt, das älteste 97.
Vermisst werden aktuell nochzweiMänner im Alter von 60 und 22 Jahren.
Tausende verloren ihr Zuhause. Häuser, Straßen, Bahnstrecken, Brücken wurden zerstört.
Drei Viertel der Menschen entlang der Ahr wurden vom Hochwasser getroffen. 42.000 der 56.000 Bewohner, 3000 von 4200 Häusern beschädigt. Die Schäden im gesamten Flutgebiet belaufen sich laut Versicherern auf circa 5,7 Milliarden Euro.
Das Ahrtal kämpft gegen Folgen der Flutkatastrophe
In den vergangenen sechs Monaten haben Roberto Lauricella und seine Nachbarn, die Menschen links und rechts der Ahr, Keller leergepumpt, Müll weggeschafft und unzählige Anträge ausgefüllt, um finanzielle Unterstützung zu bekommen. In einigen der Häuser liegt frischer Estrich, sie haben neue Türen und Fenster – und noch immer zeigen die feinen braunen Linien an den Außenfassaden, wie hoch das Wasser stand.
Viele der zerstörten Straßen haben Arbeiter inzwischen neu asphaltiert. Darunter wurden Versorgungsleitungen und auch Glasfaser neu verlegt.
Monatelang kamen jeden Tag Hunderte aus ganz Deutschland ins Ahrtal. Viele hatten sich extra Urlaub genommen. Feuerwehrleute, Handwerker, Jugendgruppen, sie alle strömten in die Orte, von denen sie zuvor oft nicht mal den Namen kannten. Brachten Bohrhämmer, Schaufeln und Schubkarren mit, um das Tal vom Schlamm zu befreien, Putz abzuschlagen, durchnässte Schränke rauszutragen. In den ersten Tagen hatten die Krisenstäbe Mühe, die vielen Menschen zu koordinieren. Zum Symbol der Solidarität wurde der "Helfer-Shuttle", eine Buslinie, die Freiwillige aus einem Lager im Gewerbegebiet an der A61 zu ihren Einsatzorten transportierte. Einige sind auch jetzt – ein halbes Jahr danach – noch da.
"Wir haben viel erreicht"
"Sechs Monate nach der Flutkatastrophe haben wir viel erreicht. Die Menschen in der Region und tausende Helferinnen und Helfer haben dafür bis an die Grenzen der Belastbarkeit gearbeitet und die Verwaltungen keinen Tag geruht", erklärte Ministerpräsidentin Malu Dreyer dieser Tage. Sie hatte gemeinsam mit Klimaschutzministerin Katrin Eder, Wirtschaftsministerin Daniela Schmitt und der Beauftragten für den Wiederaufbau, Nicole Steingaß, den besonders zerstörten Ort Schuld im Ahrtal besucht, um sich ein Bild vom Stand des Wiederaufbaus zu machen.

Über allem steht immer wieder die Frage: Hätten die Menschen im Ahrtal früher gewarnt werden können oder müssen? Bekanntlich hat der Kreis Ahrweiler erst nach 23 Uhr den Katastrophenfall ausgelöst und vor einer Flutwelle gewarnt. Vor wenigen Tagen haben mehrere Experten, darunter Meteorologen, Wasserwissenschaftler und Geografen im Mainzer Flut-Untersuchungsausschuss ausgesagt. Ihre Einschätzungen sollen mithelfen zu klären, ob es Versäumnisse gegeben hat.
Größtes Geschenk: eine funktionierende Heizung
Inzwischen können alle Schüler wieder zur Schule gehen, zum Teil in Containern, für Kita-Kinder gibt es Notbetreuungen, wichtige Infrastruktur wurde aufgebaut; Projekte, die normalerweise Jahre dauern: wie eine Hochdruckgasleitung, Brücken, Teile der Ahrtalbahn und zwei Kläranlagen. Sechs Wochen nach der Flut waren alle betroffenen Orte wieder über Straßen erreichbar. Die Flutschäden an privatem Eigentum und öffentlicher Infrastruktur werden insgesamt auf mehr als 20 Milliarden Euro geschätzt. Rund 15 Milliarden Euro waren nicht durch Versicherungen gedeckt und sollen durch Soforthilfen und den Aufbaufonds erstattet werden.
Lauricella sagt von sich, er sei kein Pessimist, keiner, der untätig sein möchte. Er denkt gern zurück an das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Hilfsbereitschaft der Menschen. Doch mittlerweile sind die meisten der Ehrenamtlichen abgezogen. Umso härter sei nun der Winter, die Kälte, die Dunkelheit. Dass die Heizung in der Wohnung seiner Eltern über dem Restaurant einen Tag vor Weihnachten wieder funktionierte, war das größte Geschenk.