Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk poltert manchmal. Einige behaupten sogar, er sei ein undiplomatischer Diplomat. Er halte sich nicht an Regeln, verrate Vertrauliches, lauter Dinge, die man nicht tun sollte. Für manche hat er den Bogen überspannt, als er Bundeskanzler Scholz eine"beleidigte Leberwurst" nannte.
Die gekränkte Befindlichkeit
Diese Äußerung bauschten einige leidenschaftlich zu einer Art"Leberwurst-Gate" auf."Ein Eklat von einem, der Hilfe fordert!", riefen sie. Ausgerechnet diejenigen, die selbst schon bei kleinsten Angriffen nicht die Ruhe bewahren können, erwarten von Melnyk, angesichts des Angriffskriegs stoisch zu bleiben. Wir Deutschen hingegen ertragen nicht einmal eine"beleidigte Leberwurst", eine niedliche Beleidigung unter den in der deutschen Sprache denkbaren Beleidigungen.
Melnyk hatte damit auf ein Interview reagiert, in dem Scholz sich pikiert über die Ausladung von Bundespräsident Steinmeier geäußert hatte. Er nannte sie als Grund dafür, weshalb er nicht nach Kiew reist. Es liege an der Ukraine, das mit Steinmeier auszuräumen, sagte Scholz. Als hätte die Ukraine gerade nicht Besseres zu tun. Scholz gönnt in seiner Rechthaberei sogar Friedrich Merz den ersten großen Punkt: Merz war in Kiew und überall dort, wo Scholz hätte sein können.
Die Diplomatie als Boomerang
Die Ukraine solle das mit Steinmeier vorher klären, meint Scholz und versucht, die Ausladung Steinmeiers zum Politikum aufzubauschen. Über die deutschen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte verliert er kein Wort. Keine Erklärung, warum deutsche Politiker Putin selbst nach der Annexion der Krim hofierten. Warum ein Altkanzler mit Gazprom verflochten ist. Kein Verständnis für Präsident Selenskyj, der Steinmeier nicht die Möglichkeit bieten wollte, Bilder von deutscher Solidarität zu produzieren, ohne dass diese mit Taten gefüllt wurden. Das Ganze spielte sich ab, als der Beschluss zur Lieferung schwerer Waffen noch nicht abzusehen war.

Jagoda Marinić
Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.
Deutschland ist so abhängig von russischer Energie, dass wir trotz Putins Angriffskriegs Riesensummen an den Kriegstreiber überweisen müssen. Ich schäme mich dafür und weiß nicht, womit Teile der deutschen Verantwortungsträger ihre moralische Überheblichkeit gegenüber Melnyk legitimieren. Nein, diplomatisch spricht er nicht, wenn man unter Diplomatie nur Höflichkeit versteht. Diplomatie ist aber vor allem die Wahrnehmung außenpolitischer Interessen, und ein Deutschland, das sich in Verantwortungsfragen manchmal derart taub stellt, braucht wohl leider diesen schrillen Ton.
Deutsche Unschuld und Nüchternheit
Deutsche beherrschen es vortrefflich, brutale Handlungen durch vermeintlich sachliche, intellektuelle oder romantische Begleitprosa zu verharmlosen. In einem Gespräch, das ich mit dem US-Historiker Timothy Snyder geführt habe, sagte dieser: Deutsche hätten selbst ihre Gasgeschäfte mit Russland zu einer Art"Vergangenheitsbewältigung" umgedeutet. So wie 28 Intellektuelle rund um Alice Schwarzer einen offenen Brief geschrieben haben, in dem sie Tatenlosigkeit als Pazifismus verstanden wissen wollten. Ohne aber zu erklären, wie sie den Krieg beenden, wie sie die Ukrainer vor dem Morden, der Versklavung schützen würden. Snyder nennt eine solche Haltung"deutsche Unschuld".Den Zweiten Weltkrieg haben andere für Deutschland gewonnen. So kommen wohl manche zum Schluss, unschuldiges Nichthandeln könne Faschisten etwas entgegensetzen. Während man bei uns über den richtigen Weg streitet, fuhr Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum 8. Mai nach Kiew und gedachte der Weltkriegsopfer, auch um deutsche Schuld aufzuarbeiten.
Andrij Melnyk tut weh, ja. Anders verstehen wir es leider nicht.