Du bist ein jüdischer Student an der Freien Universität in Berlin, wo es aggressive Proteste von propalästinensischen Gruppen gibt. Hast du Angst, auf den Campus zu gehen?
Nein, dafür bin ich nicht der Typ. Aber natürlich habe ich ein ungutes Gefühl. Und ich kenne Kommilitonen, die sich offen als jüdisch zu erkennen gegeben haben, die gehen nicht mehr zu Vorlesungen, machen alles Online oder haben Urlaubssemester beantragt, weil sie Angst haben.

Zur Person
Lior Steiner, 19, studiert im zweiten Semester Betriebswirtschaft an der Freien Universität Berlin. Er hat die Organisation "Jewish Life Berlin" mitgegründet, die für ein tolerantes und offenes jüdisches Leben eintritt. Lior stammt aus einer jüdischen Familie und ist Nachkomme von Holocaust-Überlebenden.
Befürchtest du an der FU Zustände wie an einigen US- Universitäten, an denen propalästinensische und zum Teil antisemitische Aktivisten zeitweise die Kontrolle übernommen haben?
Das ist nicht so weit weg. Wir warnen seit Monaten vor solchen Zuständen. Und es ist immer schlimmer geworden. Das Potential auf der radikalen propalästinensischen Seite ist auch an der FU auf jeden Fall da – das haben wir diese Woche gesehen. Wenn die Polizei nicht so schnell da gewesen wäre, wären ich und andere im Übrigen den Aktivisten entgegengetreten.
Wie muss ich mir das vorstellen?
Wir setzen immer auf Dialog, auf friedliche Auseinandersetzung. Aber wir widersprechen und laufen nicht weg, wenn antisemitische Parolen verbreitet werden. Meine Freunde und ich haben uns angesehen, wer da demonstriert und was die für Sachen posten: Da sind Leute dabei, die finden richtig geil, was die Hamas gemacht hat. Und solche Leute finden Platz an der Uni, sogar Unterstützung. Dagegen protestieren wir.
Pro-Palästina-Proteste breiten sich an europäischen Unis aus – Bilder zwischen Zorn und Zeltlager

Gibt es unter den jüdischen Studierenden die Bereitschaft, aktiv zu werden?
Es gibt drei Gruppen auf der proisraelischen Seite. Da gibt es die, die wirklich Angst haben und zum Teil auch schlechte Erfahrungen, die trauen sich nicht mehr an die Uni. Dann gibt es die, die sich raushalten – die äußern sich nicht zum Konflikt und sind nicht als jüdische Studierende auszumachen. Auch das ist natürlich eine Folge von Angst. Und dann gibt es eine kleine Gruppe, zu der ich mich zähle, die sich stark macht gegen diese Hetze
Trägst du an der Uni offen einen Davidstern?
Kurz nach dem 7. Oktober habe ich die ersten Anfeindungen erlebt und ihn dann abgelegt. Im November oder Dezember hat mir ein Freund aus Israel so eine „Bring them home“-Kette mitgebracht, auf der die Heimkehr der Geiseln gefordert wird. Die habe ich lange angehabt. Jetzt trage ich gar nichts mehr, weil ich keine Lust mehr habe, mich permanent auf die gleichen Diskussionen einzulassen.
Hast du den Eindruck, dass sich die Kritik auf Israels Militäreinsatz und das Leid der Zivilisten in Gaza bezieht? Oder geht es um Antisemitismus, der nichts mit aktueller Politik zu tun hat?
Natürlich kann man über Israels Militäraktion diskutieren. Das muss man auch – von mir aus auch an der Uni. Aber der Krieg wird als Vorwand genommen für Antisemitismus und Israelhass. Ich hätte überhaupt kein Problem, wenn die Demonstranten sagen, die israelische Regierung muss gestürzt werden und die Militärangriffe in Gaza müssen aufhören. Aber es geht los mit Gewaltaufrufen gegen jüdisches Leben überall auf der Welt, mit Aufrufen zur Vernichtung Israels und mit Solidaritätsbekundungen für die Hamas.
Fast 200 Dozentinnen und Dozenten von Berliner Hochschulen haben sich in einem offenen Brief dafür ausgesprochen, dass die Unis nicht die Polizei rufen und auch auf Strafverfolgung verzichten. Es wird unter anderem den Demonstranten das Recht zugesprochen, Unis zu besetzen.
Dieser Brief ist ein Schlag ins Gesicht der jüdischen Studenten. Es ist eine verkehrte Welt. Unter den Demonstranten sind antisemitische und islamistische Gruppen, die auch den deutschen Staat ablehnen, zu dem ja irgendwie die Hochschulen gehören. Und ausgerechnet Mitarbeiter dieser Unis stellen sich nun auf die Seite der Radikalen. Es ist ekelhaft und zum Kotzen.
Hast du noch Hoffnung darauf, dass jüdisches Leben in Berlin ganz selbstverständlich möglich ist?
Ich habe mit anderen die Organisation "Jewish Life Berlin" gegründet, die genau dafür eintritt: für ein jüdisches Leben, das offen und frei ist. Wir haben uns immer bemüht, mit der anderen Seite ins Gespräch zu kommen. Aber das ist schwer. Ich wurde schon oft als Zionist bezeichnet, mit dem man nicht reden könne. Da ist ganz viel Hass.

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?
Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.
Kannst du verstehen, wo der herkommt?
Wenn es um Gaza geht, darf man nicht vergessen, wie der Krieg angefangen hat: Mit Terror und Geiselnahmen gegen Israel durch die Hamas. Heute sehe ich natürlich das Leid in Gaza, die Frauen und Kinder. Aber ich bin überzeugt, dass Israel die Hamas zerschlagen muss, um friedlich leben zu können.
Hast du schon mal darüber nachgedacht, aus Deutschland wegzuziehen?
Ich bin schon auf der Straße beschimpft worden. Seit ich nach dem 7. Oktober mich öffentlich gezeigt habe, bekomme ich üble Nachrichten und Anrufe, Beschimpfungen und Morddrohungen. Dazu gehören Sachen wie: Ich steche dich ab, ich werfe dich auf die Gleise, ich finde dich – alles dabei. Aber ich habe hier Freunde und Familie. Ich hänge an dieser Stadt. Und habe keine Lust, sie denen zu überlassen.