Was trennt? Was eint? Seit 33 Jahren ist die Teilung Deutschlands Geschichte. Und 33 Jahren gibt es sie: die ausgesprochenen und die unausgesprochenen Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen. Und hier wie dort gibt es Vorurteile gegenüber dem jeweils anderen Teil Deutschlands.
Die hohen Umfragewerte für die AfD im Osten sorgen im Westen mitunter für Kopfschütteln, auf der anderen Seite ist der "Besserwessi" – Wort des Jahres 1991 – noch immer ein lebendiges Klischee. Der Westen überheblich und belehrend, der Osten rechtsextrem und fordernd?
Oder sind diese Vorurteile nur ein Generationenphänomen, das vor allem von all jenen gepflegt wird, die die deutsche Teilung noch miterlebt haben? Eher nicht. Denn tatsächlich zeigte eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung anlässlich von 30 Jahren Mauerfall, dass sich 77 Prozent der 18- bis 29-jährigen Ostdeutschen unfair gegenüber dem Westen behandelt fühlen. 66 Prozent widersprechen der Aussage, dass es keinen Unterschied mehr mache, ob jemand aus dem Osten oder dem Westen kommt.
Jugendliche sprechen über ihre Erfahrungen im Osten Deutschlands
Der stern hat mit drei jungen Menschen aus Ostdeutschland über ihre Erfahrungen gesprochen. Wie nehmen sie diesen Konflikt wahr, den ihre Generation eigentlich gar nicht mehr austragen sollte? Welche Vorurteile erleben sie? Und wie blicken sie in die Zukunft – in ihre eigene und die des Ostens?
Karl ist 18 Jahre alt und wohnt in einem Vorort von Leipzig. Seit diesem Sommer ist er fertig mit der Schule. Im Herbst wird er nach Brühl bei Köln ziehen, um dort zu studieren.

"In meiner Generation spielt die Teilung von damals kaum noch eine Rolle, nur gelegentlich bekommt man einen Seitenhieb. Vor einigen Jahren hat mir ein Mädchen mal an den Kopf geworfen, ich solle gefälligst zurück in den Osten fahren. Das war zwar irritierend, aber nicht verletzend. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, wir machen hier nichts falsch. Schade finde ich solche Vorfälle trotzdem.

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Die Vorurteile kommen aber nicht aus dem Nichts. Ich habe nichts mit Neonazis zu tun, aber ich glaube schon, dass es sie im Osten vermehrt gibt, auch in meiner Generation. In meinem Umfeld habe ich schon oft von Jugendlichen gehört, dass sie sich von der Politik nicht abgeholt fühlen und nach dem Motto 'Wir machen das nicht mehr mit' die AfD wählen wollen. Die Jugend ist zwar heutzutage offener, aber wenn sich nicht bald etwas tut, könnte es auch in meiner Generation wieder mehr Denken in Ost und West geben.
Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich hier geblieben
Der Osten wird in meinen Augen trotzdem zu negativ dargestellt. Pegida zum Beispiel. Da gab es riesige Demos hier in Sachsen. Schaut man dann auf die Nummernschilder der Leute, merkt man: Da sind Menschen aus ganz Deutschland gekommen. Die Öffentlichkeit hat sie alle dem Osten zugeordnet. Die negative Darstellung geht so weit, dass ich selbst manchmal überrascht bin über Erfolge von Ostdeutschen in meinem Alter.
Viele im Westen denken, im Osten ginge es den Menschen besonders schlecht, das glaube ich nicht. Ich finde es hier schön und hätte eigentlich keinen Grund, wegzuziehen. Leider hatte ich keine Wahl, da ich mir den Studienort für meinen Berufswunsch nicht aussuchen konnte. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich hier geblieben."
Ostdeutschland altert schneller
Letztlich wird aber auch Karl den Osten verlassen – wie schon so viele junge Menschen vor ihm. Der demografische Wandel ist in Ostdeutschland spürbar, vielerorts deutlicher als im Westen. Im Durchschnitt altert die Gesellschaft in den neuen Bundesländer stärker als in den Ländern der alten Bundesrepublik. Der Anteil unter 20-jähriger Menschen an der Bevölkerung im Osten sank laut Erhebung des Statistischen Bundesamtes von 1990 bis 2021 von 25 auf 17 Prozent, im Westen dagegen nur von 21 auf 19 Prozent. Zugleich ist der Anteil der über 65-Jährigen in den neuen Bundesländern höher als im Westen.
Die Bevölkerung in den neuen Bundesländern ist älter und sie sinkt – seit Jahrzehnten. 12,5 Millionen Menschen lebten 2021 zwischen Ostsee und Erzgebirge, das sind 15 Prozent weniger als zur Deutschen Einheit. Die (im Vergleich zum Westen) geringe Zuwanderung kann den Bevölkerungsschwund nicht stoppen. Eine Folge: Der Osten ist vom Fachkräftemangel stärker betroffen als der Westen, zeigt eine Studie des Ifo-Instituts im Auftrag der KfW.
Auch Oskar macht sich Gedanken um seine berufliche Zukunft. Nach seinem Geschichtsstudium überlegt der 20-Jährige, seine Heimat Leipzig zu verlassen, da die beruflichen Aussichten für ihn im Westen Deutschlands besser sein könnten.

"Ich fühle mich weder als Ossi noch als Wessi. Per Wortwahl die Mauer aufrechtzuerhalten, nützt niemandem etwas. Auf einer Party im Westen kam mal jemand auf mich und meine Freunde zu und fragte, ob er für uns 'Auferstanden aus Ruinen', die Hymne der DDR, anmachen solle. Solange das der erste Impuls ist, wenn man nach 30 Jahren Einheit einen Ostdeutschen trifft, läuft nicht alles glatt.
Glücklicherweise kenne ich beide Seiten. Meine Mutter kommt aus dem Ruhrgebiet und mein Vater aus Thüringen, ich wurde also west- und ostdeutsch sozialisiert. Mein Vater war Punker in der DDR, darum hatte er oft Probleme mit dem Staat und hatte nie die gleichen Chancen wie in einem freiheitlichen System. Andererseits habe ich auch Familie im Westen, die ganz anders auf die Wiedervereinigung blickt.
Ich werde hier vermutlich niemals so viel verdienen, wie ich es im Westen könnte
Meine Oma meint, sie habe mit dem Solidaritätszuschlag den Osten wieder aufgebaut, während die Straßen bei ihr im Westen verfielen. Meine Familie aus dem Osten denkt ganz anders darüber. Der Kontrast innerhalb meiner Familie spiegelt ein Stück weit den Konflikt in Deutschland wider.
Der Ruf des Ostens wird uns aber nicht gerecht. Ja, hier haben so viele Flüchtlingsheime gebrannt wie sonst nirgends, in Brandenburg zeigen Schüler den Hitlergruß. Aber das ist nicht die Mehrheit. Die rechten Jugendlichen machen es damit auch mir schwerer. Woran denken denn Arbeitgeber, wenn sich jemand aus dem Osten bewirbt …?
Gedanken mache ich mir auch über schlechteren finanziellen Aussichten. Egal wie sehr ich mich anstrenge: Ich werde hier wahrscheinlich niemals so viel verdienen und Vermögen ansparen wie ich es im Westen könnte. In meiner Heimat bin ich finanziell in jeder Hinsicht benachteiligt. Ich will zwar nicht aus Leipzig weg. Aber die finanziellen Aussichten könnten mich irgendwann dazu bringen, mein Zuhause zu verlassen."
Der Osten Deutschlands ist finanziell bis heute benachteiligt
Mit den Sorgen über seine finanziellen Aussichten ist Oskar nicht allein. Die Geschichte der DDR und ihres Zerfalls hinterlassen noch immer ihre Spuren, auch auf dem Konto. Der durchschnittliche Vollzeitbeschäftigte aus dem Osten Deutschlands verdient heute 19,9 Prozent weniger als ein westdeutscher – aufs Jahr gerechnet rund 13.000 Euro. Und auch das Vermögen im Osten ist geringer. Eine Untersuchung der deutschen Bundesbank ergab: Während das Median-Vermögen im Osten Deutschlands im Jahr 2021 bei knapp 43.000 Euro lag, war es im Westen mit knapp 128.000 Euro fast dreimal so hoch. Das kann nicht nur zu Frustration führen, sondern zeigt auch deutlich: Zwischen Ost und West gibt es auch gut 30 Jahre nach der Deutschen Einheit noch große Unterschiede.
Die Distanz zwischen Ost- und Westdeutschen spürt Josephine, 21, seit ihrer Kindheit. Geboren ist sie im Süden Thüringens, im Alter von fünf Jahren ist sie nach Baden-Württemberg gezogen. Heute studiert sie in Berlin. Sie kennt beide Perspektiven.

"Durch meinen frühen Umzug habe mich immer als 'Ossi' und 'Wessi' zugleich gefühlt, fand solche Bezeichnungen aber eigentlich schon immer doof. Ich erinnere mich noch daran, wie ich als Fünfjährige von einem anderen Mädchen im Kindergarten als 'Ossi' beleidigt wurde. Kinder werden nicht skeptisch gegenüber dem Osten geboren, sondern bekommen diese Einstellungen von den Eltern mit. Daran sieht man, wie tief Vorurteile verankert sind.
Unterschiede gibt es zwischen allen Bundesländern, und genauso gibt es Unterschiede zwischen Ost und West. In diesem Vergleich geht es aber um systematische Unterschiede. Aufstiegschancen sind ungleich auf Osten und Westen verteilt, die Menschen in den neunen Bundesländern verdienen weniger und die Infrastruktur ist durchschnittlich auch schlechter. Dadurch grenzen sich die Menschen immer weiter voneinander ab, glaube ich.
Wir als nachkommende Generation müssen das ändern
In meiner Wahrnehmung ist das größte Problem, dass viele Leute im Westen keine Ahnung vom Osten haben. Es wird immer über Ostdeutschland geredet, ohne den Osten mit einzubeziehen. Das verhärtet die Fronten. In Schulen im Westen wird über die DDR aus der Perspektive von westdeutschen Nacherzählungen gesprochen. Der Teil der Geschichte, den zum Beispiel meine Familie dort erlebt hat, die Frustration und die unterschiedlichen Bedürfnisse der ehemaligen DDR-Bürger, bleibt für Schüler im Westen unbekannt. Das macht es schwerer, die Meinungen und Bedürfnisse der Menschen im Osten zu verstehen.
Ich habe das Gefühl, inzwischen wollen beide Seiten mehr zueinander zu finden. Sie wissen aber nicht, wie. Wir als nachkommende Generation müssen das ändern. Wir haben untereinander ein grundsätzliches Harmoniebedürfnis, sind sehr weltoffen und sensibel. Das kann die in Gedanken noch bestehenden Mauern vielleicht auf Dauer einreißen."
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien erstmals im August 2023 und wurde anlässlich des Tags der Deutschen Einheit erneut veröffentlicht.