Das Gebäude in Magdeburg mit der Bezeichnung "Hyparschale" (kurz für hyperbolische Paraboloidschale, ja, jetzt wissen Sie das auch) ist eine bauliche Errungenschaft der DDR, also ungefähr so etwas wie der "Palast der Republik" in Berlin, nur eben nicht abgerissen und durch überteuerten Schlosskitsch ersetzt. Dort, in der Paraboloidschale, tagte neulich eine Landespartei, die einst, als das realsozialistische Bauwerk errichtet wurde, einer Einrichtung namens Nationalen Front angehörte, und zwar unter Führung einer gewissen SED.
Ich rede, was sonst, von der CDU.
Gewiss, das mit der sogenannten Blockpartei ist jetzt beinahe so lange her, wie die DDR währte, da sollte ich nicht zu kleinlich sein. Hauptsache, der Abgrenzungsbeschluss zur Linkspartei (formely known as PDS formely known as SED) gilt für alle Zeit – das heißt, hüstel, mit der Ausnahme von Thüringen und Sachsen.
Aber, wie gesagt, ich sollte nicht kleinlich sein und gehe zurück zur fröhlich gewendeten CDU in die architektonisch wertvolle Schale. Da im neuen Jahr der Landtag in Sachsen-Anhalt gewählt wird und die regierende Union in den Umfragen sehr deutlich hinter der realextremen AfD liegt, war eigens der Bundesparteivorsitzende und Bundeskanzler angereist, um aufrichtende Worte an Delegierte, Funktionäre und Wahlvolk zu richten.
Wenn Friedrich Merz durch die Großkrisen pflügt
Bevor aber Friedrich Merz, wie es ungute Kanzlertradition geworden ist, mit gar bekümmertem Antlitz durch die Großkrisen dieser Welt pflügte, sagte er das auf, was ein Parteichef immerdar aufsagen muss, also etwa, dass die örtliche CDU absolut fantastisch regiere und dass der zugehörige Spitzenkandidatenschulze, den die Hälfte der Menschen im Land nicht einmal kennt, garantiert bald als neuer Ministerpräsident amtieren werde.
Und die Umfragen? Die, sprach der CDU-Vorsitzende, die schaue er sich einfach "gar nicht mehr an".
Jenseits der amtsbedingten Wirklichkeitsverweigerung gab sich Merz wirklich Mühe, im einstigen Nationale-Front-Reservat angemessen demütig zu wirken. Immer wieder betonte er, "im Osten" zu sein, um schließlich zu sagen: "Ich habe das Glück, und es ist nicht mehr als Glück und Zufall gewesen, nur das, im Westen geboren, im Westen groß geworden zu sein."
Die Sentenz war nicht gänzlich neu für diesen Kanzler, und er äußerte sie auch bloß nebenher. Dennoch schaffte sie es sogleich in die Agenturen und wurde im Netz durchgekaut. Die höchstgeschätzte Zeit-Kollegin Mariam Lau schrieb, Merz wisse offenbar gar nicht, wie sein Satz in Ostdeutschland ankomme. Die Gesichter im Publikum hätten jedenfalls Bände gesprochen.
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Ganz Naher Osten
stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst
Ich war leider nicht dabei in der Schale, ich durfte stattdessen als stern-Beauftragter für alles Randständige die AfD-Jugend in Gießen journalistisch betreuen. Aber natürlich lässt sich die Bemerkung als Ausfluss der patriarchalischen Grundhaltung eines Kanzlers deuten, der nicht nur in Brasilien sein kulturelles Vorurteil streichelt.
Merz zeigte schon immer notorische Tonstörungen in der Ansprache von Minderheiten oder strukturell Benachteiligen. Ob er sich zu Frauen äußerte ("nicht so selbstbewusst wie Männer"), zu Migranten ("wir haben im Stadtbild noch dieses Problem") oder zu regenbogenbeflaggter Solidarität mit der Queer-Bewegung ("Der Bundestag ist ja nun kein Zirkuszelt"): Stets wirkte der Kanzler – sorry, den habe ich mir verdient – wie ein kleiner Pascha.
Als er sich im Jahr 2020 mal wieder um den Parteivorsitz bewarb und ein Kontrahent Jens Spahn hieß, antwortete er auf die Frage, ob er ein Problem mit einem schwulen Bundeskanzler haben würde, dies: "Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft – an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht –, ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion."
Die Gnade der sauerländischen Geburt
Homosexualität mal eben in die Nähe von Pädophilie zu rücken: Darauf muss ein demokratischer Politiker im 21. Jahrhundert erst einmal kommen. (Immerhin, so viel Fairness muss sein, hatte Merz erkennbar kein Problem mit einem homosexuellen Fraktionsvorsitzenden.)
Doch ordnet sich die von Merz in Kohl'scher Tradition apostrophierte Gnade der sauerländischen Geburt in dieses missliche Muster ein? Ich tendiere wider meiner Ossi-Affekte zum Nein. Denn zeigte dieser Bundeskanzler nicht genau jene Selbstreflexion, die heutzutage so vehement eingefordert wird? Heißt es nicht immer fortschrittsbewegt: Check your privilege?
Friedrich Merz ist eben nicht nur ein weißer, männlicher, heterosexueller und intelligenter Boomer aus der gehobenen Mittelschicht. Er verbrachte auch sein gesamtes bisheriges Leben im demokratischsten, freiheitlichsten und wohlständigsten Gemeinwesen, das es je auf deutschem Boden gab, mit allen damit verbundenen Möglichkeiten.
Umso bemerkenswerter ist, dass Merz sein offenkundiges Wessi-Privileg anspricht, und sei als taktische Anbiederung. Denn damit ließe sich durchaus arbeiten, zumal der Kanzler ein paar Fakten zu kennen scheint. So verwies er in Magdeburg darauf, dass drei Viertel der Menschen im Osten nur die gesetzliche Rente als Altersvorsorge besäßen.
Und nicht nur das. Das Durchschnittseinkommen ist im Osten um 21 Prozent niedriger als im Westen, die Wohneigentumsquote um 24 Prozent. Auch das mittlere Vermögen eines ostdeutschen Privathaushalts liegt nur bei einem Drittel des westdeutschen Niveaus – und bei den Erbschaften ist es sogar nur ein Neuntel.
Ein Sachsen-Anhalter vererbt 65 Euro
Dies gilt natürlich nur im Durchschnitt. Wie der MDR zuletzt berichtete, wurden im Jahr 2022 in Hamburg pro Person 1.424 Euro steuerpflichtiges Vermögen vererbt oder verschenkt. Im Wahlkampfland Sachsen-Anhalt waren es 65 Euro. In Worten: fünfundsechzig Euro.
Und da habe ich noch nicht erwähnt, wie viele DAX-Unternehmen im Osten ihren Firmensitz haben und wie viele Chefs in den 100 größten Unternehmen aus Ostdeutschland stammen. Es sind jeweils: null.
Das alles und noch viel mehr lässt sich in Studien nachlesen, aber auch im Bericht zur Deutschen Einheit, den die Bundesregierung jährlich herausgibt. Die zuständige Ost-Beauftragte verwies zuletzt im stern auf diese seit 1945 gewachsene Ungerechtigkeit, an der sich inzwischen kaum mehr etwas ändert.
Wenn sich also Friedrich Merz der prekären Verteilung des historischen Glücks bewusst ist, dann sollte er jetzt, da er unbedingt Bundeskanzler werden musste, etwas gegen diese Ungleichheit tun, und dies nicht bloß in wohlfeilen Parteireden, sondern im tatsächlichen Handeln. Vielleicht, nur vielleicht klappt es dann sogar auch mit der Wahl des Spitzenkandidatenschulzes in Magdeburg.