Doku auf Amazon Justin Fashanu outete sich als erster Fußball-Profi. Heute kämpft seine Nichte gegen Homophobie

Amal Fashanu wird für die Doku "Das letzte Tabu" interviewt
Amal Fashanu führt das Erbe ihres verstorbenen Onkels Justin Fashanu fort: Sie berichtet, wie hier in der Amazon-Doku "Das letzte Tabu", von der Homophobie im Profifußball
© Broadview Pictures
Bis heute ist Homosexualität ein Tabu im Fußball. Amal Fashanu unterstützt schwule Spieler. Sie arbeitet verzweifelt gegen eine Branche an, die im Vorgestern verharrt.

Manchmal, sagt Amal Fashanu, klingele ihr Telefon und Fußballer aus der Premier League meldeten sich. Meist kenne sie die Spieler nicht persönlich, aber die Profis wollten ihr etwas Persönliches anvertrauen. Sie berichteten, dass sie schwul seien. Sie erzählten von ihrer Angst vor dem Coming-out, vom jahrelangen Versteckspiel, von Spielerberatern, die auf sie einredeten, ihre Homosexualität geheimzuhalten, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Manche Spieler riefen an, weil sie Rat suchten. Andere wollten hören, ob es schwule Fußballer gibt, denen es ähnlich geht. Sie alle hofften, dass Amal Fashanu ihnen helfen kann.

Amal Fashanu, 35 Jahre alt, gehört in Großbritannien zu den lautesten Stimmen gegen Homophobie im Fußball der Männer. Die Geschichte ihrer Familie hat sie zur Aktivistin gemacht. Ihr Onkel war weltweit der erste Profifußballer, der seine Homosexualität öffentlich machte. Mehr als 30 Jahre liegt das zurück. Doch bis heute ist Justin Fashanu der einzige englische Erstligaspieler, der sich während seiner Karriere zu seinem Schwulsein bekannt hat.

Weltweit gibt es etwa eine halbe Million aktive Profifußballer. Gerade mal sieben von ihnen haben sich geoutet. Der Männerfußball hat noch immer ein gestörtes Verhältnis zur Homosexualität. Die neue Amazon-Doku "Das letzte Tabu" erzählt vom Schweigen der Fußballwelt und von denen, die den Mut hatten, es zu brechen. Der Film beleuchtet auch Justin Fashanu und seine komplizierte Geschichte, die in einem Drama endete. Acht Jahre nach seinem Coming-out nahm er sich das Leben. Lange wurde sein Schicksal als Mahnung für andere Profis herangezogen. Der Fall Fashanu sollte deutlich machen, dass beim Coming-out eines Fußballers ein Leben auf dem Spiel stehen kann.

"Justins Geschichte war vielschichtig, die Fußballwelt hat sie oft verkürzt", sagt Amal Fashanu. An einem Nachmittag im Februar sitzt sie in ihrer Londoner Wohnung. Für das Videogespräch hat sie die Kamera ihres Smartphones auf sich gerichtet. Sie sagt, oft sei bei der Betrachtung der Biografie ihres Onkels der Rassismus, dem er ausgesetzt war, übersehen worden, auch die schwierige Kindheit ohne leibliche Eltern, die psychischen Probleme, der Bruch mit dem Bruder. "Viele haben aus Justins Leben eine Warnung gemacht", sagt Fashanu. "Sie haben 37 Jahre auf einen Satz reduziert: Wenn du dich outest, riskierst du dein Leben – so war es bei ihm, und so wird es auch bei dir sein."

Falls Sie Suizidgedanken haben, sollten Sie mit jemandem darüber sprechen. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Menschen, die Ihnen zuhören – und die Ihnen helfen können. Sie erreichen sie kostenlos unter 0800/111 01 11 und 0800/111 02 22. Mail- und Chatberatung gibt es unter www.telefonseelsorge.de

Amal Fashanu war zehn, als ihr Onkel im Mai 1998 starb. Sie zog noch im gleichen Jahr von London nach Madrid, zu ihrer spanischen Mutter. Sie habe kaum Kindheitserinnerungen an ihren Onkel. Ihre Eltern hätten vermieden, über ihn zu sprechen. Kein Wort über seine Karriere, keines über seinen Tod. Sie habe nicht mal gewusst, dass er schwul gewesen sei, sagt Fashanu. Später, als sie fürs Studium zurück nach London gezogen war, sei sie immer wieder auf ihren Nachnamen angesprochen worden. Ob sie mit Justin Fashanu verwandt sei, mit dem Justin Fashanu? Sie habe angefangen zu recherchieren, im Internet, in der Familie. "Justins Geschichte wurde lange von mir ferngehalten", sagt sie, "also musste ich sie selbst herausfinden."

Amal Fashanu sitzt vor ihrem Smartphone, sie schaut in die Kamera und umreißt nun die Eckpunkte jenes Lebens, das in ihrer Familie lange beschwiegen wurde: Zusammen mit Amals Vater John wuchs Justin Fashanu zunächst in einem Waisenhaus auf und später bei einer weißen Pflegefamilie in der Grafschaft Norfolk im Osten Englands. Sein Aufstieg im Fußball verlief steil. Mit 19 spielte er schon in der Premier League. Sein erster Treffer für Norwich, ein Kunstschuss, Volley aus der Drehung in den Winkel, wurde zum Tor des Jahres gewählt. Fashanu galt fortan als eines der größten Sturmtalente des Landes. 1981 wechselte er für eine Million Pfund zum damaligen Spitzenklub Nottingham Forest. Nie zuvor hatte ein Verein eine so hohe Ablösesumme für einen schwarzen Spieler bezahlt. Fashanu war jetzt ein Star. Aber in Nottingham flogen Bananen aufs Spielfeld und Affenlaute hallten von den Rängen.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Fashanu bekam 80.000 Pfund fürs Outing

In Nottingham litt Fashanu unter dem allgegenwärtigen Rassismus. Und unter seinem Trainer. Nachdem Fashanu unpünktlich zum Training gekommen war, ließ Brian Clough ihn überwachen. Der Coach erfuhr, dass Fashanu seine Abende in Schwulenbars verbrachte. Im Training beschimpfte er ihn nun als "verdammte Schwuchtel". Clough führte Fashanu vor. Erst stellte er ihn nicht mehr auf, dann untersagte er ihm, mit der Mannschaft zu trainieren. Als Fashanu trotzdem erschien, ließ Clough ihn von der Polizei abführen.

Der Hochbegabte: Justin Fashanu, hier im Trikot von Norwich City, schoss 1980 das Tor des Jahres in England
Der Hochbegabte: Justin Fashanu, hier im Trikot von Norwich City, schoss 1980 das Tor des Jahres in England
© Imago/Colorsport

Die Fans erfuhren all das zunächst nicht. Sie sahen bloß, wie Fashanu in den wenigen Spielen für Nottingham neben sich stand. Dem Hochbegabten versprangen die Bälle, er vergab die größten Torchancen. In der Öffentlichkeit galt er bald als teures Missverständnis. Nach einem Jahr verließ er Nottingham. Er tingelte in den Jahren darauf von Klub zu Klub, ging in die USA und kam zurück, doch seine Karriere kam nie mehr in Schwung. 

Fashanu haderte mit seinem Schwulsein. Er suchte nach Zugehörigkeit und wandte sich einer fundamentalistisch christlichen Gemeinde zu. Er lernte, sich zu verleugnen. Und versuchte, seine Sexualität zu unterdrücken.

Nach seinem Rekordtransfer zu Nottingham lebte Fashanu, wie Fußballstars eben schon damals lebten. Er trug Designerkleidung, fuhr schnelle Sportwagen. Nur war er irgendwann kein hoch bezahlter Star mehr. Fashanu brauchte Geld. Dann bekam er ein Angebot der "Sun": 80.000 Pfund für ein Coming-Out exklusiv im Boulevardblatt. Sein Bruder John Fashanu, ebenfalls Profifußballer, damals Mittelstürmer beim FC Wimbledon, wollte ihn davon abbringen. Er bot ihm die gleiche Summe, damit er der "Sun" absagte. Doch Fashanu sagte dem Blatt zu. Am 22. Oktober 1990 druckte die "Sun" ein Foto von Fashanu auf der Titelseite, dazu die Zeile: "Ich bin schwul".

Fashanus Bruder John distanzierte sich nach dem Coming-out von ihm, er bezeichnete ihn als "Aussätzigen". Auch die schwarze Community in England, die ihn einst als Vorreiter gefeierte hatte, rückte von Fashanu ab. In der Kirche konnte er sich nicht mehr blicken lassen. Und als er nach dem Outing bei einem neuen Klub anheuern wollte, forderten die Verantwortlichen grundlos einen HIV-Test von ihm. Er spielte noch bei einigen unterklassigen Vereinen, in England und im Ausland, aber vor und nach den Partien saß er oft in der Kabine des Schiedsrichters. Seine Mitspieler weigerten sich, sich neben ihm umzuziehen und zu duschen.

Fashanu soll sich schon seit seiner Kindheit im Waisenheim fremd gefühlt haben, wie ein Verstoßener. Nun war es ganz offensichtlich. Aber der Boulevard hatte noch nicht genug. Fashanu sollte weitere Schlagzeilen liefern. Und er lieferte. Er erfand eine Affäre mit einem britischen Politiker und bekam Geld dafür. Später forderte ihn ein Gericht auf, die Behauptung zurückzunehmen. Sein Bruder John nutzte das, um Fashanus gesamtes Outing zu Unrecht in Zweifel zu ziehen.

"Ich habe meine Familiengeschichte vor laufender Kamera kennengelernt", sagt Amal Fashanu

Nach seiner Spielerlaufbahn trainierte Fashanu ein Jugendteam im US-Bundesstaat Maryland. Dort warf ihm ein 17-Jähriger vor, Fashanu habe ihn vergewaltigt. Fashanu stritt die Vorwürfe ab, kehrte nach London zurück und tauchte unter. Wenig später erhängte er sich in einer Garage im Stadtteil Shoreditch. In seinem Abschiedsbrief schrieb er unter anderem: "Wenn irgendjemand diese Notiz findet, bin ich hoffentlich nicht mehr da. Schwul und eine Person des öffentlichen Lebens zu sein ist hart. Ich will sagen, dass ich den Jungen nicht vergewaltigt habe. Er hatte bereitwillig Sex mit mir, doch am nächsten Tag verlangte er Geld. Als ich nein sagte, sagte er: ‚Warte du nur ab!' Wenn das so ist, höre ich euch sagen, warum bin ich dann weggerannt? Nun, nicht immer ist die Justiz gerecht. Ich fühlte, dass ich wegen meiner Homosexualität kein faires Verfahren bekommen würde."

Amal Fashanu hat die Biografie ihres Onkels vor zwölf Jahren in einer Doku für die BBC aufgearbeitet. "Ich habe meine Familiengeschichte vor laufender Kamera kennengelernt", sagt sie. "Justin war ein Pionier." Für den Film konfrontierte sie auch ihren Vater John mit dessen Aussagen über Justin Fashanu. Die Doku gewann Preise. David Cameron, damals britischer Premierminister, lud sie in die Downing Street ein. Plötzlich war Amal Fashanu eine Aktivistin, die für einen anderen, offeneren Fußball kämpft.

Seit mehr als zehn Jahren setzt sich Amal Fashanu, die ihr Geld als Journalistin, Model und Designerin verdient, nun schon für einen Wandel im Fußball ein. Sie sieht die kleinen Fortschritte. Sie sieht, dass eine junge Generation von Profis heranwächst, die offener über mentale Probleme spricht. Aber sie sieht auch, wie langsam alles geht. Wie sehr der Fußball in weiten Teilen im Vorgestern verharrt. Wie fest sich viele Vertreter des Sports an lange überholte Männlichkeitsbilder klammern. Wie stur sie schwul noch immer als Synonym für Schwäche verwenden.

"Ich bin wirklich müde", sagt Fashanu beim Videogespräch im Februar. "Das System Profifußball ist veränderungsunwillig. Die Gesellschaft ist viel weiter." Dass die Eckfahnen in einigen Stadien nun in Regenbogenfarben gestaltet sind, ändere daran nichts. Solche Aktionen hält Fashanu für "scheinheilig". Der Fußball täusche eine Offenheit vor, die spätestens dann nicht mehr existiere, wenn es ums Geld gehe. Und ums Geld gehe es ständig.

"Die Branche sagt den Spielern: Mach' dein Coming-out später, irgendwann nach deiner Karriere", sagt Fashanu. "Sie fragen: Warum willst du deine Laufbahn gefährden, deinen Erfolg, alles, wofür du so hart gearbeitet hast? Und dann fordern sie: Verleugne dich, steh' nicht zu dir, unterdrücke, wer du bist."

"Ich würde keinem Fußballprofi raten, sich zu outen"

2019 hat Fashanu eine Stiftung gegründet. Die Justin Fashanu Foundation will Aufklärungsarbeit leisten. Und sie soll eine Anlaufstelle für schwule Profis sein. Die Stiftung bietet Spielern professionelle psychologische Hilfe an, aber oft wollen sie erstmal mit Fashanu sprechen. Sie bewundern ihren Onkel für seinen Mut, und sie kennen ihre Doku, ihr öffentliches Engagement. Sie wissen, dass sie die Eigenheiten des Systems versteht. Dass sie mit einem Fußballer als Vater aufgewachsen ist, der selbst immer wieder mit problematischen Aussagen aufgefallen ist.

Grundsätzlich sei es nicht leicht, mit Fußballern zu sprechen, sagt Fashanu. "Wenn sie misstrauisch werden, machen sie zu. Ich musste schon als Kind lernen, mit einem Fußballprofi umzugehen: mit meinem Vater", sagt sie. Sie wisse, wie Fußballer ticken. Auch deshalb vertrauten ihr die Spieler. Für viele seien die Gespräche mit ihr ein großer Schritt. Ein erstes Coming-out  außerhalb des eigenen Umfelds. Ein Austesten, wie es sich anfühlt, mit einer Fremden über das zu sprechen, was man sonst verschweigt. Irgendwann, sagt Fashanu, würde sie mit den meisten Spielern auch über ein mögliches Coming-out reden.

Fashanu sagt, nicht allein das Coming-out hätte ihren Onkel in den Suizid getrieben, sondern die Summe der negativen Erfahrungen in seinem komplizierten Leben. Sie hält es für nicht besonders wahrscheinlich, dass sich seine Geschichte bei einem Profi heute wiederholen würde. Und dennoch sagt sie: "Ich würde keinem Fußballprofi raten, sich zu outen. Das wäre anmaßend und unethisch."

Natürlich, sagt Fashanu, sehne sie den Tag herbei, an dem sich nach mehr als 30 Jahren mal wieder ein aktiver Spieler aus der Premier League zu seiner Homosexualität bekennt. Sie wisse aber, dass ein Coming-out für einen Fußballer auch heute noch herausfordernd sein kann. "Es bräuchte einen Spieler, der vor Selbstvertrauen strotzt, der sportlich über jeden Zweifel erhaben ist. Ein Spieler auf dem Level eines Cristiano Ronaldo müsste sich outen", sagt sie. "Da würden sich selbst für den gestrigsten Fan alle Fragen erübrigen. Er ist schwul, na und? Er ist trotzdem einer der besten Spieler aller Zeiten. Davon würde eine Signalwirkung ausgehen."

Auf einer Wand in Norwich prangt ein Porträt von Justin Fashanu
Ein Wandbild erinnert in Norwich an Justin Fashanu
© IMAGO/PA Images

Fashanu sieht ihre Aufgabe nicht darin, Profis zu einem Coming-out zu überreden. Sie will den Spielern zuhören, Verständnis zeigen und ihnen zur Seite stehen, egal, wie ihre Pläne aussehen. Und sie will zu einem Kulturwandel im Fußball beitragen, der es den Profis irgendwann leichter macht, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Sie fängt dafür bei den Jüngsten an. 

Gerade schreibt sie an einem Kinderbuch über die Geschichte von Justin Fashanu. Sie will, dass die nächste oder übernächste Generation von Spielern mit einem anderen Männlichkeitsbild aufwächst. Dass sie Fußball und Männer lieben können, ohne sich falsch oder schlecht zu fühlen.

Manchmal sei es schwer, die Zuversicht zu bewahren, nach zehn Jahren im Kampf gegen Homophobie im Fußball, sagt Fashanu. Trotzdem mache sie weiter. "Ich kann erst aufhören mit dieser Arbeit, wenn es keine Coming-outs mehr braucht, weil es als völlig normal angesehen wird, dass es schwule Fußballer gibt." Bis dahin, glaubt Amal Fashanu, werden noch mindestens zehn weitere Jahre vergehen.

Die Doku "Das letzte Tabu" ist ab 13. Februar bei Prime Video zu sehen.