Jedes 4. Kind betroffen Studie zeigt: Bekämpfung von Kinderarmut rechnet sich für Gesellschaft und Staat

DIW-Studie: Stärkere Bekämpfung von Kinderarmut rechnet sich für den Staat
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Familien mit mindestens drei Kindern und Familien von Alleinerziehenden sind in Deutschland besonders von Armut gefährdet. Als arm oder armutsgefährdet gelten Haushalte, wenn sie beim Einkommen weniger als 60 Prozent des Mittelwertes zur Verfügung haben. Davon ist in Deutschland insgesamt etwa jeder fünfte Haushalt betroffen. Das sind Zahlen einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Sie basiert auf repräsentativen Befragungen von Haushalten aus dem Jahr 2019, also vor der Corona-Pandemie, die vielen Familien stark zugesetzt hat. Die Studie solle für mehr Sachlichkeit im regierungsinternen Streit über die konkrete Ausgestaltung der Kindergrundsicherung sorgen, so die Wissenschaftler. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich eine stärkere Bekämpfung der Kinderarmut für den Staat schnell rechnen würde, auch finanziell: O-Ton Marcel Fratzscher, DIW-Präsident: "Die besten Investitionen, die ein Staat tätigen kann, ist in seine Menschen. Das gilt für niemanden mehr als für Kinder und Jugendliche, die in Armut leben und von Armut bedroht sind." // "Für mich zeigt die Studie sehr schön, dass aus jeglicher Perspektive - wirtschaftlich, sozialpolitisch - die Kindergrundsicherung eine der klügsten Investitionen einer jeden Bundesregierung ist." Die Folgekosten von Kinderarmut würden bei etwa 110 bis 120 Milliarden Euro liegen, so die Studie. Es lohne sich also, früh zu investieren, um Armut zu bekämpfen. Menschen lebten sonst oft auch im späteren Leben in Armut und mit weniger Bildung. Sie seien dann stärker abhängig von staatlichen Leistungen und auch weniger gesund. O-Ton Ulrich Lilie, Präsident Diakonie Deutschland: "Die von Familienministerin Lisa Paus anfangs genannten zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung halten wir mit vielen anderen ExpertInnen schon seit langem für nicht ausreichend. Notwendig wären zumindest, wenn wir es richtig machen wollen, zumindest 20 Milliarden Euro. Das allerdings, liebe Damen und Herren, das ist in der Relation wirklich auch mal zu betrachten und zu diskutieren, ist nur ein Bruchteil der Summe, die Staat und Steuerzahler heute schon schultern müssen, weil wir Kinderarmut eben nicht energisch bekämpfen, sondern uns damit abfinden, dass sie sich verfestigt." Die Kindergrundsicherung soll ab 2025 Hilfsleistungen bündeln und nach Vorstellungen der Grünen auch ausweiten. Das Thema ist innerhalb der Koalition umstritten. Familienministerin Lisa Paus forderte zuletzt bis zu sieben Milliarden Euro an Mehrausgaben jährlich. Im vom Kabinett beschlossenen Finanzplan bis 2027 sind dafür aber nur zwei Milliarden Euro zusätzlich ab 2025 vorgesehen.
Die Kindergrundsicherung ist und bleibt ein Streitthema in der Ampel-Koalition. Dabei zeigt eine Studie nun, dass Kinderarmut langfristig den Staat viel mehr kosten würde.

Kinderarmut zu bekämpfen ist eine Mammutaufgabe – und braucht eine Menge Geld. Wohl mehr Geld, als die zwei Milliarden Euro, die Finanzminister Christian Lindner (FDP) für die Einführung der Kindergrundsicherung ausgeben will. Dabei hat Kinderarmut einer Studie zufolge einen hohen Preis für Staat und Gesellschaft. Demnach haben armutsbetroffene Kinder ein höheres Risiko, gesundheitliche Probleme zu bekommen und arbeitsunfähig zu werden als Kinder aus ökonomisch starken Familien. Alleine die direkten und indirekten Kosten im Zusammenhang mit Adipositas, deren Risiko mit Kinderarmut steigt, liegen bei jährlich mehr als 60 Milliarden Euro, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag der Diakonie untersucht. Damit sorge Kinderarmut langfristig für höhere öffentliche Ausgaben für Gesundheitsversorgung sowie höhere Auszahlungen in den Sozialversicherungssystemen.

"In der Diskussion über die Kindergrundsicherung dürfen nicht nur die kurzfristigen Sparzwänge im Bundeshaushalt eine Rolle spielen", sagte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie bei der Präsentation des Gutachtens am Freitag. "Wir müssen auch über die mittel- und langfristigen Belastungen für Staat und Steuerzahler sprechen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn wir nicht frühzeitig in alle Kinder investieren." Denn gesunde und gut ausgebildete Kinder hätten deutlich bessere Chancen, sich ein selbstständiges Leben mit höheren Einkommen und einer geringen Abhängigkeit von staatlichen Hilfen aufzubauen.

Streitthema Kindergrundsicherung

Mit der Kindergrundsicherung will Familienministerin Lisa Paus (Grüne) Leistungen für Familien zusammenfassen und diese zugleich erhöhen. Die FDP sieht Leistungsverbesserungen kritisch. Finanzminister Christian Lindner sagte der "F.A.Z.": "Eine fünfköpfige Familie, die Bürgergeld bezieht, erhält heute schätzungsweise 36.000 bis 38.000 Euro im Jahr vom Steuerzahler." Es helfe wenig, ihnen nun hohe zusätzliche Transfers zu zahlen, seien es 1000 oder gar 3000 Euro im Jahr.

Wie viel die Kindergrundsicherung nun kosten wird, bleibt Streitthema. Für das Jahr 2025, in dem sie starten soll, sind momentan nur zwei Milliarden Euro vorgemerkt. Paus hatte jedoch zu Beginn 12 Milliarden pro Jahr gefordert und zuletzt von maximal sieben Milliarden Euro jährlichen Kosten für die Kindergrundsicherung ausgegangen.

Kinderarmut langfristig teuer

Für die Diakonie ist keine der Summen ausreichend: Notwendig wären nach ihren Angaben mindestens 20 Milliarden Euro. "Das ist ein Bruchteil der Summe, die Staat und Steuerzahler heute schon schultern müssen, wenn Kinderarmut nicht energischer bekämpft, sondern stattdessen lieber die enormen Folgekosten in Kauf genommen werden", sagte Diakonie-Präsident Lilie.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, dringt ebenfalls auf eine rasche Einführung der Kindergrundsicherung. "Große Sorge bereitet mir, dass die Kindergrundsicherung aus Kostengründen scheitern könnte", sagte Fratzscher. "Es wäre ein Fehler, die Ausgaben für die Kindergrundsicherung auf zwei Milliarden Euro zu drücken, wie es derzeit im Bundeshaushalt vorgesehen ist." Die besten Investitionen, die ein Staat machen könne, sei in seine Menschen.

Jedes vierte Kind von Armut betroffen

Aktuell ist nach den Daten des Statistischen Bundesamtes knapp jedes vierte Kind von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Vor Beginn der Inflation war es noch etwa jedes fünfte Kind. Besonders betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden: 2022 waren 25,5 Prozent der Alleinerziehenden bei Haushalten armutsgefährdet. Bei zwei Erwachsenen mit einem Kind waren es dagegen 8,6 Prozent.

Und das bedeutet der Studie zufolge auch im Bereich Bildung hohe Folgekosten: Der oft schlechtere Zugang zu Bildungsangeboten für armutsbetroffene Kinder führe zu niedrigeren Bildungsabschlüssen und begrenzten beruflichen Perspektiven. Das wiederum erhöhe das Risiko von Arbeitslosigkeit und bedeute langfristig gesellschaftliche Kosten in Form von ausbleibenden Steuer- und Sozialabgaben und zusätzliche Transferleistungen. "Diese Kosten belaufen sich alleine für Personen eines Jahrgangs mit unzureichender Bildung auf 1,5 Milliarden Euro jährlich", heißt es weiter.

DPA
tkr/Stella Venohr