Auf dem Tisch stehen Brötchen, Wurst und Käse. Ein heller Raum in einem neuen Gebäude, moderne Architektur aus Glas und Stahl. Rund 30 Menschen sind heute zu dem Arbeitslosen-Treffen gekommen und sitzen an einem Viereck aus zusammengestellten Tischen. Es sind viele Ältere im Raum, man kennt sich. Draußen fällt Regen.
An einem der Tische sitzt Mike Gallen und versucht zu helfen, Fragen zu beantworten, Tipps zu geben. Der 52-Jährige ist der einzige katholische Arbeitslosenseelsorger in München - wahrscheinlich sogar der einzige in Deutschland mit Vollzeitstelle, meint er. Sein Büro ist im Pfarrhaus der Gemeinde St. Rupert untergebracht, mitten in dem traditionellen Münchner Arbeiterviertel Westend. Von hier aus betreut er die verschiedenen Arbeitslosengruppen in der Stadt, veranstaltet jeden zweiten Mittwoch im Viertel einen offenen Treff für Arbeitslose und hört sich in Gesprächen die Sorgen der Menschen an.
Zur Person
Mike Gallen ist der einzige katholische Arbeitslosenseelsorger in München. Der 52-Jährige kümmert sich im Münchner Viertel Westend um die Sorgen und Nöte der Arbeitslosen.
"Arbeit ist nur das halbe Leben"
"Nicht kleinkriegen lassen", "nicht entmündigen lassen", "nicht so deprimiert rumlaufen", das sind die aufmunternden Botschaften des Erwerbslosentreffs, in dem auch Mal- oder Computerkurse angeboten werden. Denn "Arbeit ist nur das halbe Leben", wie es auf einem Faltblatt der Arbeitslosenseelsorge heißt. Die derzeitige Diskussion um die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I reißt hier in der Gruppe freilich niemand vom Hocker. "Das macht nicht soviel Unterschied", heißt es. Für die meisten käme sie eh zu spät, sie sind längst auf Hartz IV. Und irgendwie findet der vielbeschworene Aufschwung woanders statt, als hier im Westend. "Für ein oder zwei hat sich die Situation verbessert", weiß Gallen, "aber viele haben bereits resigniert".
Geboren im fernen Neuseeland in einer Stadt mit dem wegweisenden Namen Christchurch kam Gallen vor 27 Jahren nach Deutschland, wurde Pastoral-Referent und arbeitete als Jugend- und Betriebsseelsorger. Seit 1997 ist er in der Diözese für die Nöte der Erwerbslosen zuständig. Hartz IV, sagt er im Rückblick auf diese Jahre, war dabei ein Einschnitt: "Die Leute haben Angst, sie sind sehr verunsichert. Sie fragen sich, was kommt noch auf uns zu, was wird aus uns werden?" Früher hätten die Behörden sich intensiver um die Menschen in Not gekümmert, die Sozialarbeiter waren greifbar, bei besonderen Notlagen gab es zusätzliche Hilfen. Jetzt ginge es mehr um die Verwaltung der Menschen, die zuständigen Behörden seien weiter weggerückt: "Einen Beratungstermin kann man nur noch telefonisch vereinbaren - wenn man das Glück hat und die Leitung nicht belegt ist", schildert Gallen seine Erfahrungen.
Jeder achte Münchner ist arm
Szenenwechsel. Der Stadtteil Laim liegt gut sieben Kilometer westlich vom Westend. Hier gibt es viele Genossenschaftswohnungen, das Viertel war früher eine Hochburg der Eisenbahner, sozialdemokratisches Ur-Milieu sozusagen. Der SPD-Ortsverein trifft sich wie üblich im "Krug zum grünen Kranze". Dann sitzen im Hinterzimmer an die 25 Menschen und lauschen zum Beispiel einem Vortrag von Friedrich Graffe. Graffe ist Genosse und dazu noch Sozialreferent der Landeshauptstadt. Sein Thema ist "Armut in München" und leider, sagt er, bleibe auch eine wirtschaftlich prosperierende Stadt wie die weißblaue Metropole von der allgemeinen Entwicklung nicht verschont. Die allgemeine Entwicklung - das ist das zunehmende Auseinandertriften von Arm und Reich und die zunehmende Zahl derer, die mit dem Existenzminimum auskommen müssen. In München sind das laut jüngsten Armutsbericht der Stadt rund 170.000 Menschen, das heißt, jeder achte Münchner ist arm. Schuld sei, so Graffe, die Arbeitslosigkeit und Hartz IV trage zu dieser Armutsentwicklung bei. Nachher, in der Diskussion unter den Genossen, bleibt auf seltsame Weise ausgespart, dass es die eigene Partei war, die dieses "Reformgesetz" beschlossen hatte. Mittlerweile hat sich zwar laut Statistik die Zahl der Langzeitarbeitslosen in der Landeshauptstadt um 6000 deutlich vermindert, die Zahl der Haushalte, die von Hartz IV leben müssen, aber kaum. Noch immer sind davon rund 42.000 sogenannte Bedarfsgemeinschaften, und darin viele Kinder, betroffen. Armut in München, das ist für Mike Gallen manchmal "richtig greifbar", etwa am Monatsende, wenn das Geld aufgebraucht ist und die Leute nichts mehr zum Essen haben: "Die kommen dann nur noch mit der 'Tafel' über die Runden", also den kostenlos verteilten Lebensmitteln. Er selbst greift auch manchmal in die Handkasse, um dem einen oder anderen mit einem kleinen Betrag auszuhelfen. Was der Arbeitslosenseelsorger in den Gesprächen auch immer wieder erlebt, ist die Verzweiflung der Menschen, wenn sie mit den Ämtern nicht klarkommen. Und immer wieder kocht bei den Betroffenen auch die Wut hoch, doch was bleibt ist, auch die Scham über das Schicksal als Langzeitarbeitsloser.
Kein Verständnis für die Missbrauchsdebatten zu Hartz IV
Für die immer wiederkehrenden Missbrauchsdebatten zu Hartz IV, mit denen die Verschärfung der Bedingungen für Bedürftige gerechtfertigt werden, hat der katholische Seelsorger kein Verständnis: "Es gibt nicht mehr Missbrauch, als wie bei der früheren Sozialhilfe, also vielleicht bei zwei bis drei Prozent der Fälle." Die ganze Diskussion um Missbrauch sei nur wegen der Kosten entstanden, der Sozialstaat aber habe sich an der Not der Menschen und nicht an Einsparmöglichkeiten auszurichten. Wer sich auf christliche Werte berufe, könne nicht die katholische Soziallehre vor der Tür lassen, sagt Gallen und erinnert an das Wort Papst Johannes Paul II.: "So wahr es ist, dass der Mensch zur Arbeit bestimmt und berufen ist, so ist doch in erster Linie die Arbeit für die Menschen da..."

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?
Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.
Das wollen die Arbeitslosen vom Westend nun auch mehr nach außen tragen. Unter dem naheliegenden Namen "Prekär" haben sie eine Schreibgruppe gegründet, in der ein fester Stamm von fünf bis sechs Leuten Texte über ihre Situation, über Ängste und Hoffnungen zu Papier bringen. Vielleicht wollen sie damit nächstes Jahr, wenn München seine 850-Jahre-Feier ausrichtet, an die Öffentlichkeit gehen. Damit die Leute sehen, dass es auch ein "München von unten" gibt.