Autobahnkirche Medenbach Die Pfarrerin von der A3: "Wenn man denkt, Religion bedeutet nichts mehr, beweist diese Kirche das Gegenteil"

Pfarrerin Bea Ackermann vor dem Schild, das auf die Autobahnkirche hinweist
Pfarrerin Bea Ackermann ist wehmütig nach dem Gottesdienst in der Autobahnkirche Medenbach. Der Abschied von dem besonderen Gotteshaus fällt ihr schwer.
© Laura Hindelang
Bevor sie in den Ruhestand geht, feiert Pfarrerin Bea Ackermann ein letztes Mal den Tag der Autobahnkirchen in Medenbach. Im stern-Gespräch verrät sie, warum ausgerechnet das Gotteshaus an der A3 ihr gezeigt hat, dass der Glaube für viele Menschen noch immer eine wichtige Rolle spielt.

Ganz pünktlich kann der Gottesdienst nicht beginnen. Der Weihbischof steckt im Stau. Kein Wunder, wenn die Kirche mitten an der A3 liegt. Bea Ackermann hingegen ist startklar – und schwitzt ordentlich in ihrem schwarzen Kaschmir-Talar. Seit vier Jahren ist sie Pfarrerin der evangelischen Autobahnkirche Wiesbaden-Medenbach. Das Gotteshaus, das mitten auf einer Raststätte zwischen Tankstelle und "Nordsee"-Imbiss liegt, beschreibt sie als einen mystischen Ort. Am Sonntag hat die 69-Jährige zum letzten Mal den jährlichen Tag der Autobahnkirchen gefeiert. Im Dezember muss sie in den Ruhestand gehen. Die Zeit in der Kirche habe sie ermutigt. Denn die Kapelle inmitten des Verkehrschaos habe ihr gezeigt, "dass es den Glauben noch gibt, auch wenn die Austrittszahlen das Gegenteil vermuten lassen", sagt sie.

Frau Ackermann, warum braucht es Ihrer Meinung nach Kirchen entlang der Autobahn? 
Der Verkehr wird immer brutaler, die Menschen fahren immer aggressiver. Wenn man hier zur Ruhe kommt, sitzt man danach anders am Steuer. Man braucht Pausen für den Körper, wie für Toilette, Essen. Aber man braucht auch Pausen für die Seele. Wenn man als Fernfahrer schon zehn Stunden unterwegs ist, eine lange Urlaubsreise hat oder als Vertreter noch bis München muss, kann man hier die Seele tanken. Das kommt auch in den Anliegenbüchern raus, in denen die Besucher Bitten, Gebete und Dank hinterlassen. "Ort der Ruhe, wo man Kraft tanken kann" oder "Oase der Stille", das sind die Schlagworte, die da immer wieder kommen.

Treffen Sie manchmal auf Besucher? Was sind das für Menschen, die in der Autobahnkirche rasten?

Es gibt viele, die regelmäßig auf der Durchreise sind, Geschäftsreisende zum Beispiel, die immer die gleiche Strecke haben. Für die ist das hier immer ein Ruhepunkt. Es sind auch viele LKW-Fahrer, aber ansonsten kann man keine Schicht, kein Alter nennen – es ist bunt gemischt. Manchmal sind es Kinder, die ins Anliegenbuch schreiben: "Ich hab' dich lieb, Gott" und ein Herz dazu malen. Das Faszinierende ist, dass die Besucher aus aller Herren Länder kommen. In dem Buch finden sich alle möglichen Sprachen von Arabisch bis Kyrillisch. Die Kirche steht für jeden offen. Einer unserer ehrenamtlichen Kirchendiener ist mal einem Moslem begegnet, der dort gebetet hat. Einmal hat ein Mann in der Kirche gesessen und ganz laut "von guten Mächten wunderbar geborgen" gesungen.

Was verbinden Sie persönlich mit der Kirche? Ist das Gotteshaus für Sie auch eine "Oase der Stille"?
Ich finde, es ist ein mystischer Ort. Wenn ich am Altar stehe und durch das Glasdach sehe, denke ich immer, dass ich dem Himmel ein Stück näher bin. Es ist selbst in den dunkleren Jahreszeiten nie so düster wie in einer Kirche, die nur drei bis vier Fenster hat. Und es ist ein spiritueller Ort. Man merkt, dass hier Tausende Menschen ganz bewusst ihre Frömmigkeit leben. Wenn man denkt, dass Glaube, Kirche, Religion nichts mehr bedeutet und keiner mehr an Gott glaubt, beweist das Anliegenbuch das Gegenteil. Ich glaube, hier sind nur gute Gedanken. Natürlich stehen oft Klagen im Anliegenbuch, aber das ist für mich etwas Positives. Es ist wichtig, dass das herauskommt. Auch Schmerz muss sein. Aber hier gibt es keine Aggression, kein Mobbing, keine Parolen, diese ganzen Worte, die auch zerstören können. Viele Menschen sitzen in dem Vertrauen hier, dass Gott ihnen ganz nahe ist.

Als ich das Anliegenbuch durchgeblättert habe, sind mir auf manchen Seiten sehr ausführliche Leidensgeschichten begegnet. Was bewegt die Leute dazu, ausgerechnet hier ihr Herz auszuschütten?
Die persönliche Frömmigkeit ist noch da. Die Kirchen schaffen es aber nicht, das aufzugreifen. Oder die Hemmschwelle "Kirche" ist zu hoch. Gottesdienst, Andacht, das wollen viele nicht mehr. Das hier ist aber eine Kirche, wo man garantiert keinen Pfarrer trifft und wenn man ihn trifft, sucht man eher das Weite. Die Menschen wollen hier zur Ruhe kommen, nachdenken, mit Gott ins Gespräch kommen. Ich bin froh darüber. Ich bin Missionarin mit Leidenschaft, aber ich will keine Kirchensteuer-Zahler, sondern dass Menschen eine geistliche Heimat haben. Dass sie einen Glauben haben, der ihnen in schweren Zeiten hilft. Dann ist es mir lieber, die Menschen kommen hierher, zünden eine Kerze an, schreiben ihr Anliegen rein und fühlen sich getröstet. Die Durchreisenden suchen hier die Stille, die Ruhe. Sie wollen nicht singen, laut beten oder Predigten hören, sondern mit Gott im Gespräch sein. Das ist etwas Wunderbares.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?

Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.

Gottesdienst in der Autobahnkirche: "Bitte mach, dass Eintracht Frankfurt gewinnt"

Bea Ackermann schreitet zum Fenster, das gegenüber vom Altar in die Ziegelmauer der Kirche eingelassen ist. Auf dem Fensterbrett liegt das Anliegenbuch. "Es ist eine schöne Tradition, dass wir Bitten, Anliegen und Dank aus dem Buch nehmen", sagt sie, während sie die Seiten, die sie vorher mit einem pinken Klebezettel markiert hat, aufschlägt. Statt den klassischen Fürbitten liest die Pfarrerin die Anliegen der Reisenden vor.

Wie entscheiden Sie, welche Einträge Sie während des Gottesdienstes vorlesen?
Ich versuche zwischen bewegender Bitte, Dank für den Ort und fröhlichen Einträgen zu wechseln. Manchmal steht da auch etwas wie: "Bitte mach, dass Eintracht Frankfurt gewinnt". So etwas bringt die Leute zum Schmunzeln.

Programmheft für den Gottesdienst der Autobahnkirche Medenbach
Den bundesweiten Tag der Autobahnkirchen hat die Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen ins Leben gerufen. Die Kapelle in Medenbach gibt es seit 2001. Sie war die erste Autobahnkirche in Hessen.
© Laura Hindelang

Gibt es einen Eintrag, der Ihnen bis heute nachgeht?
Es sind die Bitten, die mit dem Sterben zusammenhängen. Die Bitten, Menschen zu erlösen oder dass Gott sie zu sich nimmt. Einmal war die Rede von einem Kind, das seinen letzten Weg gegangen ist. Das ist mir am meisten nahegegangen. Deswegen muss ich die Einträge immer vorab lesen. Wenn ich sie das erste Mal lese, kommen mir oft die Tränen. Das ist schon besonders. Bei den traditionellen Gottesdiensten kann man so etwas innerlich beten, aber nicht rauslassen.

Pfarrerin Bea Ackermann liest aus dem Anliegenbuch
"Ich brauche nie Fürbitten, ich nehme sie immer aus dem Anliegenbuch", sagt die Pfarrerin. Mehr als 40 Bücher haben die Besucher seit Bestehen der Kirche mit ihren Bitten gefüllt.
© Laura Hindelang

Die Andachten finden einmal im Monat statt. Bleiben die Reisenden manchmal für den Gottesdienst?
Eher selten. Die Kirchgänger sind eher die, die bewusst aus Medenbach und den umliegenden Dörfern kommen, weil sie die Atmosphäre und die Andachten mögen. Als ich hier anfing, hat jeden Monat ein anderer Pfarrer die Andacht gehalten. Die Kirchgänger wollten aber nicht jeden Monat jemand anders sehen. Deshalb habe ich begonnen, das kontinuierlich zu machen und Plakate aufgehängt. Seit der Zeit ist der Gottesdienstbesuch auf durchschnittlich 20 bis 25 Besucher angestiegen. Vorher waren es nur vier oder fünf. Dann hatten wir zwei Taufen hier, eine Trauung, ab und an auch Biker-Gottesdienste. Der Tag der Autobahnkirche ist immer das Highlight. Ich habe in den vier Jahren, in denen ich hier war, dafür gesorgt, dass die Kirchen in den umliegenden Ortschaften bekannter wird und die Leute gerne hierhin kommen.

Warum kommen die Leute gerne hierher? Was ist das Besondere an Ihren Gottesdiensten?
Ich mache das nicht so theologisch, sondern praxisnah: Was heißt das konkret? Wo erlebe ich das? Meine Gottesdienste haben meistens ein Thema, das mit einem Symbol verbunden ist. Zum Thema Glück habe ich ein Kleeblatt mitgebracht und erzählt, was Glück aus christlicher Sicht ist. Zum Thema "Gottes Liebe ist wie die Sonne" habe ich kleine Holz-Sonnen verteilt. Solche Giveaways lieben die Leute. Wenn ich die Predigt an einem Symbol oder Bild festmache, merke ich, dass die Menschen viel mehr aus dem Gottesdienst mitnehmen. Ich war früher katholisch und fand die Predigten in der Kirche toll. Aber ich wollte immer was hören, was meinen Alltag betrifft, wie ich ein erfülltes Leben führen kann. Das hat mir gefehlt. Deswegen habe ich mir vorgenommen, dass in meiner Predigt immer ein Impuls drin ist, den man in den Alltag mitnehmen kann. Wir werden nachher ein "Vaterunser" beten, das ich auf den Verkehr übertrage; was die Bitten in dem Gebet konkret für das Verhalten auf der Straße bedeuten. So kann man etwas Traditionelles, das wichtig für den Gottesdienst ist, in eine moderne Form bringen.

Pfarrerin Bea Ackermann und Weihbischof Gerhard Pieschl
Pfarrerin Bea Ackermann und Weihbischof Gerhard Pieschl singen und beten gemeinsam für die Gemeinde. "Vater unser im Himmel" ; "Du bist der Vater, auch der Fußgänger und Radfahrer, der Alten und Kinder und Menschen mit Behinderung".
© Laura Hindelang

Die Autobahn-Version des Gebets trägt Bea Ackermann im Wechsel mit dem Weihbischof vor. Er rezitiert den traditionellen Teil, die Pfarrerin ihre eigene, alltagsnahe Version. Das klingt so:

"Dein Wille geschehe, wie im Himmel und auf Erden."

"Damit nicht das Recht das Stärkeren auf unseren Straßen herrscht und Menschen in Gefahr bringt, sondern deine Menschenfreundlichkeit sich in unserem Umgang miteinander spiegelt."

Können Sie sich, wenn Sie auf Ihre Zeit als Autobahn-Pfarrerin zurückblicken, an einen besonders bewegenden Moment erinnern?
Eigentlich gibt es in jeder Andacht bewegende Momente, in denen ich merke, dass etwas bei den Menschen ankommt. Einmal habe ich den Gottesdienst mit einem persönlichen Segen abgeschlossen. Eine Frau hat um Kraft gebeten, weil sie kürzlich erfahren hatte, dass ihre Freundin unheilbar an Krebs erkrankt ist. Da musste ich erst einmal schlucken. Dann habe ich die Hand aufgelegt, den Segen gesprochen und gemerkt, wie Energie durchfließt, die Energie Gottes. Das berührt die Menschen, da kommen manchmal auch Tränen.

Die Kirche ist 24 Stunden geöffnet und meist ist niemand vor Ort. Gab oder gibt es Probleme mit Vandalismus?
Die schlimmste Form des Vandalismus, die es hier gibt, ist, dass die Menschen rund um die Kirche ihr Geschäft verrichten. Einmal sogar hinter dem Altar. Und einmal hat einer versucht, das Anliegenbuch anzuzünden. Aber dafür, dass es die Kirche seit 22 Jahren gibt und sie rund um die Uhr geöffnet ist, hält es sich in Grenzen. Zerstörung ist selten vorgekommen.

Zum Abschied singt Bea Ackermann ein Lied, das besser auf die Autobahn nicht passen könnte: "Sei behütet auf deinen Wegen." Dabei begleitet sie sich selbst auf der Gitarre. Die Kirchgänger, die sich in dem aufgeheizten Andachtsraum mit den Programm-Heftchen Luft zufächeln, singen mit ihr. Später, als die Pfarrerin den Talar gegen ein kurzes, schwarzes, mit Pailletten besetztes Kleid getauscht hat, stößt sie im Vorhof der Kirche mit den Gästen an. Ein Glas Sekt, bevor sie am Abend den nächsten Gottesdienst abhält.

Mehr zum Thema