Medikamentenmissbrauch "Ich lebe noch" - Medikamententests an Kindern in NRW-Heimen

Bis heute leiden Betroffene an der Unsicherheit, was ihnen als Kind im Heim eigentlich widerfuhr. (Archivbild) Foto: Oliver Berg
Bis heute leiden Betroffene an der Unsicherheit, was ihnen als Kind im Heim eigentlich widerfuhr. (Archivbild) Foto
© Oliver Berg/dpa
Impfstoff-Versuche, Sedierungen, Todesfälle, Schweigen: Erschütternde Erkenntnisse einer Studie zeigen, wie wenig Schutz Kinder in NRW-Heimen jahrzehntelang hatten.

Direkt nach der Geburt 1964 kam Thomas Frauendienst in ein Heim in Volmarstein bei Hagen, auf die Station für "Kinder zur besonderen Verwendung". Er war mit Fußfehlbildungen und diversen körperlichen Behinderungen zur Welt gekommen, wie er erzählt. Nach viereinhalb Jahren hätten die Ärzte ihn als apathisches und unterernährtes Kind, das nicht sprechen konnte, in die Obhut der Eltern zurückgegeben.

Als "Krüppelanstalt" sei das Heim verschrien gewesen, ein ehemaliger NS-Arzt hatte dort das Sagen. Frauendienst trug die Nummer 2.033, wie er später in den Akten herausfand. Dort war auch dokumentiert, dass er allein in den ersten sechs Monaten seines Lebens 60 Mal operiert und "mit Medikamenten vollgestopft" wurde. "Sie haben mich getreten, sie haben mich beleidigt, sie haben mich hintergangen und in Volmarstein auf das Grausamste misshandelt und vergewaltigt", sagt Frauendienst. "Aber ich lebe noch."

Zehntausende Menschen betroffen

Wohl Zehntausende Kinder in Heimen, Heilstätten, Kurkliniken und anderen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen wurden zwischen 1946 und 1980 laut einer neuen Studie Opfer von missbräuchlichen Medikamentenversuchen, Probe-Impfungen und zweifelhaften Operationen. "Wir gehen von einem flächendeckenden Phänomen aus", sagte der Düsseldorfer Medizinhistoriker Professor Heiner Fangerau bei der Vorlage der Studie. "Wir stufen das Ausmaß als bedeutend ein."

Die Studie wurde im Auftrag des NRW-Gesundheitsministeriums erstellt. Demnach waren je nach Definition etwa 10 bis 25 Prozent aller in NRW in den untersuchten Einrichtungen untergebrachten jungen Menschen irgendwann in ihrer Kindheit und Jugend betroffen. Nach Schätzungen seien rund 500.000 junge Menschen im Untersuchungszeitraum in den Einrichtungen untergebracht gewesen, so Fangerau. Demnach könnten bis zu 125.000 von ihnen Opfer von Medikamentenmissbrauch und anderen zweifelhaften oder unnötigen Behandlungen gewesen sein.

Der systematische und oft routinemäßige Medikamentenmissbrauch war demnach verflochten mit anderen Gewalterfahrungen. Die Verflechtung mit Gewaltpraktiken und sexualisierter Gewalt war "umfassender als vorab angenommen", so Fangerau. Viele Betroffene litten bis heute darunter. Die Wissenschaftler stützten sich auf bisherige Forschungsliteratur, untersuchten rund 4.000 Akten, forschten in Archiven und führten Gespräche mit Betroffenen und Zeitzeugen.

Neuroleptika und Impfstoff-Versuche

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Untersucht wurden unter anderem der Einsatz von Medikamenten in Kinder- und Jugendpsychiatrien in Gütersloh, Hamm, Viersen-Süchteln, im Wittekindshof bei Bad Oeynhausen und in der Hephata Mönchengladbach. Verabreicht wurden den Kindern beispielsweise Neuroleptika, aber auch Insulin, um sie ruhigzustellen.

"Die Gaben und Kombinationen konnten umfangreich sein", heißt es weiter. Sowohl in Gütersloh als auch im Wittekindshof und der Hephata sei es zu einzelnen Todesfällen gekommen, die mit einer umfangreichen Medikamentengabe in Verbindung gestanden haben könnten. Die kausalen Zusammenhänge ließen sich im Nachhinein aber nicht mehr feststellen.

Belegt wurden auch Versuche mit Impfstoffen an Kindern und Jugendlichen etwa in Düsseldorf sowie Medikamententests in Kinderheilstätten und Kurheimen etwa in Aprath bei Wuppertal, Bad Oeynhausen, Godeshöhe bei Bonn und Bad Waldliesborn. In der einstigen Tuberkulose-Heilanstalt Aprath wurde den Forschungen zufolge 1956 - ein Jahr vor Markteinführung - auch das Schlafmittel Contergan beziehungsweise dessen Wirkstoff Thalidomid getestet.

Auffällige Blinddarm-Operationen

Im Mädchenheim Tecklenburg wurden laut Studie bis Anfang der 70er Jahre hormonelle Schwangerschaftstests vorgenommen. In einer Einrichtung in Viersen-Süchteln seien sogenannte stereotaktische Operationen, also Eingriffe am Gehirn, bei zwei Mädchen Anfang der 1970er Jahre auffällig. Eine "ungewöhnliche Häufung von Blinddarmoperationen" habe es zudem im Mädchenheim Ratingen von 1949 bis 1952 gegeben. Hier stehe die Frage im Raum, ob es sich um verdeckte Sterilisationen gehandelt haben könnte.

Die Information und Einwilligung der betroffenen Familien bei solchen Tests habe in der Ärzteschaft "eine unbedeutende Rolle" gespielt, so eine weitere Erkenntnis. Bis heute litten die Betroffenen an der Unsicherheit, was ihnen eigentlich in der jeweiligen Einrichtung als Kind widerfahren sei. "Für sie ist das Leid und Unrecht nicht beendet, sondern wirkt bis in die Gegenwart nach."

Betroffene zum Schweigen gebracht

Das Land NRW, die Landschaftsverbände LVR und LWL sowie die Kirchen als Träger von Einrichtungen hätten ihre Aufsicht und Schutzpflichten nur unzureichend wahrgenommen, konstatiert Fangerau. Es habe keine unabhängigen Kontrollen gegeben. Wer Missstände benannte, sei nicht gehört oder durch Drohungen zum Schweigen gebracht worden. Jahrzehnte sei das Leid der Heimkinder im öffentlichen Diskurs unsichtbar gewesen. Die Politik habe nur verzögert auf die Missstände und Forderungen zur Aufarbeitung des missbräuchlichen Medikamenteneinsatzes reagiert.

Inzwischen wurden nach Angaben von NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) rund 10.000 betroffene ehemalige Heimkinder in NRW aus zwei Fonds mit rund 100 Millionen Euro entschädigt.

Laumann bittet um Entschuldigung

Laumann bat die Betroffenen im Namen der Landesregierung um Verzeihung. "Es tut mir unheimlich leid, was damals passiert ist", sagte er. "Das ist auf der Seele eines Menschen ein Fleck, der nicht weggeht." Der Staat habe die Aufgabe, dort besonders zu kontrollieren, wo Menschen lebten, die sich nicht wehren könnten. Das gelte für Kinder ebenso wie für demenzkranke Pflegeheimbewohner.

dpa