Mein Navi hat mir letzte Woche das Du entzogen, und ich bin verwirrt. Ist es schon wieder vorbei mit uns? Habe ich was falsch gemacht? Erst im Frühjahr hatte es plötzlich begonnen, mich zu duzen ("Du befindest dich trotz des üblichen Verkehrs auf der schnellsten Route"), nachdem wir jahrelang per Sie waren ("Sie haben Ihr Ziel erreicht").
Jetzt aber, das verletzt mich am meisten, versucht mein Handy verkrampft, jedes Du oder Sie zu vermeiden, so wie man das mit Leuten macht, bei denen man unsicher ist, in welchem Verhältnis man eigentlich zu ihnen steht. "Diese Strecke ist trotz des üblichen Verkehrs die schnellste", verkündet es steif. Die normale Google-Suchfunktion hinge gen hat von unserem Zerwürfnis noch nichts mit bekommen, die duzt weiterhin ungebrochen. "Mein test du duzen?", fragte sie mich gerade, nachdem ich aus Spaß "duzen" eingegeben habe. Aber höre ich da plötzlich eine leise Genervtheit im Ton? Muss ich mir Sorgen machen?
Wie soll meine Technik mich ansprechen?
Ein Blick ins Netz zeigt, dass es eine rege Debatte darüber gibt, wie man von einem Gerät angesprochen werden sollte. Darf mich ein Stück Plastik mit Platinen ungefragt duzen? Oder ist allein die Frage schon sinnlos, weil die Kategorien Respekt und Höflichkeit, Distanz und Nähe ja ein Verhältnis zwischen Menschen beschreiben und nicht zwischen einem Menschen und seiner Maschine, auf die er sich gern aus Versehen setzt? Oder muss diese Maschine uns im Gegenteil nicht sogar unvermeidlich duzen, so nah, wie sie uns inzwischen kommt?

Meike Winnemuth
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In einer aktuellen Umfrage haben 45 Prozent der Befragten zugegeben, dass sie auf der Toilette per Handy surfen, lediglich 13 Prozent der 18- bis 29-Jährigen haben das noch nie gemacht. "Sie haben vergessen, sich die Hände zu waschen, mein Herr" - das würde ich von einem Handy gern mal hören.
Die Sache mit dem Du und dem Sie, mit Nähe und Distanz, ist dieser Tage auch in der realen Welt komplizierter denn je. Im Berufsleben setzt sich immer mehr ein lockeres Start-up-Du durch, das im Zweifel per Dekret angeordnet wird: Im März hat der Chef der Otto-Group allen rund 50.000 Mitarbeitern das Du angeboten, ein "Kulturwandel 4.0" solle auf diese Weise befördert werden. Im Juni zogen Lidl und Kaufland mit zusammen 375.000 Mitarbeitern nach: Vom Azubi bis zum Vorstandschef sind alle aufgefordert, sich zu duzen.
Die Pflicht zum Duzen
Manager überschlagen sich derzeit in Sachen Kumpeligkeit, etwa der VW-Digitalchef Johann Jungwirth: "Ich bin J. J. Mich muss man nicht siezen." (Ich vermute mal: Dschäidschäi, nicht Jottjott.) Dass es nicht um das Recht, sondern die Pflicht zum Duzen geht, hat Lidl-Kaufland-Boss Klaus Gehrig schnell klargemacht: "Es gibt keinen Zwang. Aber klar ist: Wer sich nicht duzt, isoliert sich. Das sind nicht die Leute, die wir brauchen." Zur Erinnerung: Lidl ist das Unternehmen, das seine Mitarbeiter mit Überwachungskameras ausspionierte und Leute feuerte, die einen Betriebsrat gründen wollten. Und gerade da sollen alle zwangsweise Freunde sein? Die dann gern mal ein Stündchen dranhängen, man tut's doch schließlich für den Kumpel Chef?
Ich mag das Du und liebe das Sie. Ich finde es freundlich, weil respektvoll. Vertraute Nähe ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Auszeichnung, das Du ein Privileg, das verdient sein will.
Nötig ist es schon gar nicht: Jüngst zeigte eine Grafik, welche Minister im Kabinett Merkel sich duzen. Angela Merkel duzt fünf Kollegen (de Maizière, von der Leyen, Gröhe, Dobrindt, Altmaier), Frank-Walter Steinmeier zehn. Aber einen gibt es, der niemanden duzt und von niemandem geduzt wird: Wolfgang Schäuble zieht ungerührt das professionelle, höfliche Sie durch. Mein Held.