Vermutlich 30.000 Gene hat der Mensch, und ein bedeutender Teil davon birgt Bauanleitungen für Enzyme. So gut wie jede chemische Reaktion im Körper wird von Enzymen gesteuert, ohne die Bio-Motörchen läuft vieles langsamer oder gar nicht. Zum Beispiel, wenn wir eine Stulle essen: Während wir noch kauen, zerlegt Speichel-Amylase große Stärkeketten aus dem Brot in kleinere Zuckermoleküle, damit der Darm sie schnell aufnehmen kann.
Von der Pflanze bis zum Fisch
Für die Verdauung von Fett und Eiweiß existieren ebenfalls zahlreiche körpereigene Enzyme, die große Molekülkomplexe in kleinere Stücke schnippeln, damit der Stoffwechsel leichter arbeiten kann. Neben solchen recht simplen Zerkleinerungsprozessen sind Enzyme aber auch an der Herstellung von Hormonen und der Übertragung von Zellsignalen beteiligt, sie ermöglichen unter anderem die Abwehr von Krankheitserregern, und wir benötigen sie, um unser Erbgut zu vervielfältigen. Nicht nur der Mensch braucht die patenten Helfer, sie befinden sich in allen lebenden Organismen - von der Bakterie über die Pflanze bis zum Fisch.
Molekularbiologisch betrachtet sind fast alle Enzyme Proteine, sprich Eiweiße. Wie das Klare im Hühnerei oder das Keratin im Haar bestehen sie aus langen Ketten von Aminosäuren, die sich zu kleinen Gebilden zusammenzwirbeln. Seine besondere Gestalt bestimmt immer auch die spezielle Funktion des Proteins. So beschleunigen - oder katalysieren - die Enzyme jeweils ganz bestimmte chemische Reaktionen (siehe Grafik), die ohne ihre Hilfe nur sehr langsam ablaufen würden - meist zu langsam. Enzyme arbeiten höchst effektiv: Sie nehmen ihre Reaktionspartner in eine auf deren Form zugeschnittene Tasche auf und stellen kleine chemische Hilfsmechanismen zur Verfügung, die die Reaktion schneller ablaufen lassen. Das Enzym selbst ändert dabei nur kurzzeitig seine Form und kann sich nach vollbrachter Arbeit gleich den nächsten Reaktionspartner schnappen.
Warum nicht Enzyme schlucken?
Da scheint der Gedanke gar nicht dumm, dem Körper von diesen wunderbaren und nützlichen Minimotoren noch ein paar mehr zu beschaffen - in Form von Pillen oder besonders enzymhaltigen Lebensmitteln. Für Vitamin- und Mineralstoffpräparate geben die Bundesbürger jährlich ja schon mehr als 360 Millionen Euro aus. Warum nicht auch Enzyme schlucken?
Ob als "Power, ohne die im Körper nichts läuft", "unersetzliche Bausteine menschlichen Lebens" oder ganz schlicht als "wichtig" und "wertvoll" für den Organismus - Enzyme werden von Herstellern einschlägiger Präparate wie von speziellen Gesundheitsratgebern in hohen Tönen gelobt. Zusätzliche Gaben sollen demnach Entzündungen stoppen, das Immunsystem fit machen, Schwellungen beseitigen, den Stoffwechsel anfeuern, Fettpolster abschmelzen, sogar gealterte Körperzellen wieder aufbauen und Krebs bekämpfen. Wissenschaftlich belegt ist das nicht. Aber auch nicht in jeder Hinsicht falsch, denn Enzyme aus Früchten oder tierischen Quellen haben durchaus Effekte, die sich der Mensch zunutze machen könnte.
Dauerbrenner Ananas
Ein Dauerbrenner der Enzympräparate ist zum Beispiel das Bromelain aus der Ananas. Genau genommen handelt es sich bei Bromelain um einen Mix verschiedener Enzyme, aber über die genaue Zusammensetzung dieser Mischung herrscht auch mehr als hundert Jahre nach ihrer Entdeckung keine Gewissheit. Immerhin: Acht der katalytisch aktiven Bestandteile hat man bis dato identifiziert. Die meisten von ihnen sind "proteolytisch aktiv", das heißt, sie lösen einen bestimmten Bindungstyp in Proteinketten auf. In tierischen Eiweißen kommen diese Bindungen ziemlich häufig vor, insbesondere in Muskelfleisch - also in Schnitzel, Steak und Gänsebraten. Bromelain wird in der industriellen Fleischproduktion deshalb auch als sehr effektiver Zartmacher genutzt.
Fettschmelze per Enzym? "Ein frommer Wunsch"
Lifestyle-Magazinen und Werbeversprechen zufolge soll das Enzym aber auch die Menschenfigur zart machen. Die so genannte Ananas-Diät verspricht unter Hinweis auf das Bromelain eine regelrechte Auflösung ungeliebter Pölsterchen. Fettschmelze per Enzym? "Ein frommer Wunsch", kommentiert der Münchner Ernährungswissenschaftler Jürgen Reimann. "Ich wüsste nicht, wie Bromelain den Fettabbau anregen sollte." Dazu müsste das Zauberenzym erst einmal die Passage durch den Magen überstehen - das ist für Proteine und eben auch für Enzymeiweiße schwierig, denn im aggressiven Milieu des Magens sind sie dem Angriff von Säuren und anderen Verdauungsenzymen ausgesetzt. Außerdem enthält Bromelain in erster Linie proteinspaltende Enzyme. Reimann: "Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass der Ananascocktail überhaupt in die Fettverdauung eingreift."
Eine fettabbauende Wirkung ist bisher nur bei Pankreatin bekannt. Wie der Name verrät, kommt dieses tierische Enzym aus der Bauchspeicheldrüse, dem Pankreas. Wie das Bromelain ist es eine beliebte Zutat in Enzympräparaten, entweder allein und hoch konzentriert oder als Teil eines Kombi-Produkts. Und auch bei dem Extrakt aus tierischem Pankreasgewebe handelt es sich um eine Mischung, nicht um ein einzelnes Enzym. Pankreatin enthält unter anderem die Proteasen Chymotrypsin und Trypsin, ferner so genannte Elastasen, die Bindegewebe auflösen, und eben auch fettspaltende Lipasen. Diese können nach Aussage von Reimann durchaus nützlich sein, "wenn zum Beispiel die Gans mit Knödeln schwer im Magen liegt". Letztlich unterstützen alle Verdauungsenzyme den Körper bei der Aufnahme von Nährstoffen, nicht aber bei deren Vernichtung. Denn Enzyme verbrennen bei ihrer Tätigkeit weder Fett noch Zucker. "Schlank macht deshalb auch Pankreatin nicht", stellt Reimann klar. Aber wozu sind die ganzen Enzympillen dann da?
Mehr Erfahrung als Wissen
Ganz genau weiß man noch nicht, welches Wirkungsspektrum Frucht-Enzyme wie Bromelain, das ebenfalls verbreitete Papain aus der Papaya oder Kiwi-Enzyme tatsächlich haben. Vor allem über die molekularen Mechanismen, nach denen sich solche Bio-Katalysatoren in unseren Stoffwechsel einmischen, ist wenig bekannt. Trotzdem greift man gerade in der Medizin nicht selten auf die Reaktionshelfer zurück. "Es ist vor allem Erfahrung, die bisher gezeigt hat, dass der ergänzende Einsatz von Enzymen durchaus sinnvoll sein kann", bestätigt Experte Jürgen Reimann. Die Betonung liege dabei allerdings auf "ergänzend". Als unterstützende Maßnahme findet zum Beispiel Bromelain kombiniert mit Pankreatin Anwendung in der Behandlung der rheumatischen Arthritis. In klinischen Studien wurde tatsächlich ein antientzündlicher Effekt dieser so genannten systemischen Enzymtherapie beobachtet, allerdings fehlen auch hier klare Erkenntnisse über den Wirkmechanismus. Man vermutet, dass die Enzyme in den Aufbau der Prostaglandine eingreifen. Prostaglandine machen bei Entzündungsreaktionen die Gefäße durchlässig und sensibilisieren Schmerzrezeptoren. Sie sind damit maßgeblich für Schwellungen und Schmerzen verantwortlich, zum Beispiel auch bei Verletzungen der Gelenke und Muskeln. Viele auf die Symptome zielende Arzneimittel aus der Schulmedizin setzen an den Prostaglandinen an - und die weitgehend nebenwirkungsfreien Enzyme zeigen ein schwächeres, aber recht ähnliches Wirkmuster.
Enzyme sind keine Wundermittel
Abgesehen von Verdauungsbeschwerden und bestimmten Entzündungsprozessen allerdings ist der Nutzen von Enzympräparaten äußerst fraglich. Heilsversprechen für schwerere Erkrankungen wie Krebs oder Multiple Sklerose entbehren nach Ansicht von Reimann jeder Grundlage. Enzyme können vieles - und die Natur hat sie ganz gezielt dort eingebaut, wo sie gebraucht werden. Zum Wundermittel umwidmen lassen sie sich nicht.