Der Anblick des "Manneken Pis", das als bronzener Knirps und Wahrzeichen Brüssels unbeschwert in stolzem Bogen sein Wasser abschlägt, dürfte rund eine Million deutscher Männer vor Neid erblassen lassen. Sie leiden unter "Paruresis", einer meist verschwiegenen seelischen Störung, die das Pinkeln auf öffentlichen Toiletten unmöglich macht. In einer weltweit ersten Therapie-Studie rücken Psychotherapeuten der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf jetzt dem Problem näher, das in Extremfällen tief in das Leben der Betroffenen eingreift. Bei der Behandlung eines Depressiven habe er bemerkt, welche Ausmaße die scheinbar nur lästige Störung annehmen kann, schildert der Düsseldorfer Psychotherapeut und Leiter der Studie, Philipp Hammelstein: "Der Patient war seit 15 Jahren nicht mehr in Urlaub, konnte keine Kneipen besuchen und die starken Einschränkungen in der Freizeit haben ihn schließlich depressiv gemacht."
Seelischer Stress verschließt die Harnröhre
Das Unvermögen, auf öffentlichen Toiletten zu urinieren, gilt allgemein als soziale Phobie, die ähnlich der Flug-Angst behandelt werden kann. Die bloße Anwesenheit anderer auf einer Toilette, Schritte vor der Kabinentür oder in Extremfällen nur die Furcht, irgendwer könne - wie auch immer - von dem "kleinen Geschäft" mitbekommen, lässt den Harnstrahl stocken. Der seelische Stress, so der Experte, zieht die Ringmuskeln in der Blasenregion einfach zusammen und verschließt die Harnröhre. Hammelstein: "Ich hatte Patienten, die hatten das 30 Jahre."
Betroffen sind laut Hammelstein etwa drei Prozent, nach amerikanischen Studien bis zu sieben Prozent aller Männer ab der Pubertät. Aber auch rund hunderttausend Frauen in Deutschland leiden nach Schätzungen des Forschers daran. Medikamente und Urologen bleiben fast immer machtlos. Manche Betroffene helfen sich nach Aussagen des Experten mit genau dosiertem Trinken, um den Harndruck bis zur häuslichen Toilette aushalten zu können.
Heilung durch Angstbehandlung möglich
An dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützten Düsseldorfer Therapieprojekt werden sich von Oktober an zunächst 60 betroffene Männer beteiligen. Hammelstein und sein Team wollen dabei den bisher noch weitgehend rätselhaften Ursachen der Paruresis auf den Grund gehen - und natürlich ihre Patienten "mit klassischer verhaltenstherapeutischer Angstbehandlung" auch heilen.
Erste erfolgreiche Vorstudien weisen hier einen Weg: Zunächst im Gespräch, dann in der Praxis sollen die Patienten "Experten ihrer eigenen Problematik" werden. Der «erfolgreiche» Besuch des Urinals an der Seite des Therapeuten nach reichlichem Wassergenuss ist ein wichtiger Schritt in der Behandlung, «auch wenn wir anfangs vielleicht 20 Minuten auf den Strahl warten müssen». Am Ende gehen die Patienten gemeinsam angstfrei auf eine viel frequentierte Toilette etwa in einem Kaufhaus oder einem Bahnhof - und der Psychotherapeut bleibt vor der Tür stehen.
Auslöser noch unbekannt
Die Ursachen der Paruresis liegen für die Düsseldorfer Wissenschaftler noch weitgehend im Dunkeln: Eine "Störung bei der Herausbildung männlicher Identität" wie etwa Versagen beim knabenhaften "Wettpinkeln" könne der Anfang sein, mutmaßt der Psychotherapeut. So könne ein Auslöser die archaische Angst sein, ein Revier abstecken zu wollen und es nicht fertig zu bringen. Oft trete das Problem erstmals bei einer Zugreise oder in einem schaukelnden Flugzeug-Klo auf. Körperfeindliche Erziehung komme als Ursache nicht in Betracht, sagt Hammelstein, auch sexuelle Störungen seien seinen Patienten unbekannt. Auffällig viele Betroffene stammten aber aus eher angepassten Familien, "denen es wichtig ist, nicht aus dem Rahmen zu fallen".