Seit Wochen warnen Experten vor einer sogenannten "Twindemie", dem gleichzeitigen Auftreten einer heftigen Grippewelle mit der aktuellen Corona-Pandemie. Die Befürchtung: Zirkulieren beide Viren besonders stark, würde das medizinische Bereiche und Krankenhäuser sehr wahrscheinlich an den Rand der Belastungsgrenze bringen – oder darüber hinaus. Ähnlich wie das Coronavirus kann auch die echte Influenza-Grippe zu sehr schweren Krankheitsverläufen führen, wenn auch seltener. Engpässe bei Intensivbetten oder Beatmungsplätzen könnten die Folge sein.
Damit das nicht eintritt, sollen sich vor allem Risikogruppen gegen die Grippe impfen lassen. Das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt die Impfung wie in den Vorjahren für ältere Menschen ab 60 Jahren und Menschen mit Vorerkrankungen. Eine hohe Impfquote sei "essenziell", um schwere Influenza-Verläufe oder Engpässe in den Krankenhäusern zu verhindern, schreibt das RKI. Für diesen Herbst und Winter hat die Bundesregierung deshalb 26 Millionen Impfstoffdosen bestellt – so viele wie noch nie.
"Grippewelle praktisch ausgefallen"
"Niemand kann vorhersagen, wie stark die Grippewelle in jedem Jahr verläuft, das heißt, auch für dieses Jahr können wir es nicht vorhersagen", hatte RKI-Präsident Lothar Wieler kürzlich auf einer Pressekonferenz erklärt. Was ihn aber optimistisch stimme, sei ein Blick auf die Südhalbkugel der Erde – Richtung Australien, Neuseeland, Südafrika und Südamerika. "Dort findet die Grippewelle normalerweise von Juli bis September statt, also in unserem Sommer", so Wieler. "In diesem Jahr ist die Grippewelle in diesen Bereichen aber praktisch ausgefallen."
Geltende Kontaktbeschränkungen haben dabei "wahrscheinlich" eine Rolle gespielt haben, so Wieler. Durch die AHA-L-Regeln - also Abstandhalten, Hygiene, Alltagsmasken und Lüften - können nicht nur Covid-19-Infektionen verhindern werden, sondern "genauso gut Grippe-Infektionen".
Dazu passt auch eine Beobachtung aus dem diesjährigen Frühjahr: Im Vergleich zu den vorherigen Grippesaisons war die zurückliegende Grippewelle in Deutschland um mindestens zwei Wochen verkürzt. "Da Kinder für die Verbreitung der jährlichen Grippe eine wesentliche Rolle spielen, sind hier insbesondere die Schulschließungen ab der zwölften Kalenderwoche 2020 zu nennen", heißt es in einem RKI-Bulletin. Sehr wahrscheinlich haben die Kontaktbeschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie nicht nur die erste Corona-Welle gebrochen, sondern auch der Grippewelle ein schnelles Ende bereitet.
Beispiel Australien
Besonders eindrucksvoll sind die Zahlen aus Australien: Dort haben sich dieses Jahr bislang knapp 21.200 Menschen nachweislich mit der Grippe angesteckt –36 Menschen starben. Im Vorjahr 2019 hatten sich bis zu einem vergleichbaren Zeitpunkt bereits rund 290.000 Menschen mit dem Virus infiziert, 705 Menschen überlebten die Infektion nicht.

Die Zahlen kommen nicht von ungefähr: Australien gilt als eines der Länder, das besonders streng gegen das Coronavirus vorgeht. Die Landesgrenzen sind für ausländische Reisende seit Monaten de facto geschlossen, und auch der Bundesstaat Victoria war in den vergangenen Wochen wegen steigender Fallzahlen in Melbourne stark abgeriegelt. Je strenger die Kontaktbeschränkungen seien, desto schlechter könnten sich auch Atemwegserkrankungen im Allgemeinen verbreiten, so die Einschätzung von Ian Barr, der an einem WHO-Zentrum zur Erforschung der Influenza in Australien arbeitet.
Gegenüber der "Taz" zeigte er sich bereits im August vorsichtig optimistisch, was die kommende Grippesaison auf der Nordhalbkugel betrifft: "Es hängt wirklich davon ab, wie weit in den einzelnen Ländern die Beschränkungen bestehen bleiben, was die Bewegungsfreiheit der Menschen angeht, die Handhygiene, das Tragen von Masken", so Barr gegenüber der Zeitung. "Wenn aber nur einige dieser Maßnahmen weitergeführt werden, erwarte ich auch für Europa einen dramatischen Rückgang der Zahl der Grippefälle."