Medizin + Psyche Die Gier der grauen Zellen

Bei Übergewicht ist der Stoffwechsel im Hirn aus der Bahn geraten, sagt Internist Achim Peters. Gezieltes Training kann helfen.

Weltweit werden immer mehr Menschen immer dicker. Manche Gesundheits-Experten sprechen bereits von epidemischen Ausmaßen mit künftig kaum zu bewältigenden Konsequenzen für die Gesundheitssysteme. Gehen die bisherigen Therapiekonzepte an den wahren Ursachen des Übergewichts vorbei?

Ich denke ja, denn Diäten scheinen auf Dauer nichts zu bringen und auch die wenigen zugelassenen Medikamente sorgen nur für moderaten Gewichtsverlust. Ein Grund könnte sein, dass der Hebel bislang an der falschen Stelle angesetzt worden ist. Das Überangebot von Nahrungsmitteln allein reicht meines Erachtens nicht aus, um die enorme Ausbreitung von Fettleibigkeit zu erklären. Die medizinische Forschung hat sich beim Thema "Adipositas" bislang überwiegend auf die Regulation der Energieressourcen im Körper konzentriert. Aus der Sicht unserer Arbeitsgruppe ist Übergewicht aber ein Problem, das eng mit den Energieressourcen für das Gehirn zusammenhängt.

Auf welche Weise?

Das Gehirn hat eine Sonderstellung im Organismus. Wir haben experimentelle Belege dafür, dass es mit höchster Priorität Priorität das Ziel verfolgt, seine eigene Energieversorgung sicherzustellen und konstant zu halten. Mit Zucker, speziell mit Glukose, deckt das Gehirn fast seinen gesamten Energiebedarf. Es verbraucht mehr als die Hälfte der Glukosemenge, die wir täglich essen. Und da es nur in sehr ge¬ringem Umfang Energie speichern kann, muss es permanent für Nachschub sorgen. Das kann geschehen, indem auf Befehl des Gehirns die Muskulatur, das Fettgewebe, die Bauchspeicheldrüse und die Leber dazu beitragen, dass sich der Energiefluss vom Körper zum Gehirn erhöht, oder indem auf weiteren Befehl des Gehirns mehr Energie, das heißt mehr Nahrung, aufgenommen wird. Aufgrund dieser Gier des Gehirns nach Glukose sprechen wir vom "Selfish Brain", vom eigennützigen Gehirn. Ist die Abstimmung zwischen der Energieanforderung von innen und der Energieanforderung von außen gestört, kommt es dazu, dass das Hirn mehr Nachschub anfordert, als für den Körper gut ist.

Wie steuert das Gehirn das Körpergewicht?

Zentraler Regulationsmechanismus für den Energiestoffwechsel ist aus meiner Die Sicht das Stresssystem des Menschen. Wenn es in der Ruhelage und im Gleichgewicht ist, fühlen wir uns richtig wohl. Ist es, beispielsweise durch psychische Beeinträchtigungen wie Stressbelastung über einen längeren Zeitraum im Ungleichgewicht, kann das zu einer unnatürlichen Steigerung des Appetits führen. Viele Menschen verbinden Essen mit Trost und Entspannung. Vor allem zuckerhaltige Speisen mildern nachweislich die Stressreaktion und wirken stimmungsaufhellend. Wer solch ein Trostessen über Jahre hinweg praktiziert, sorgt dafür, dass in seinem Gehirn unweigerlich diese Verknüpfung eingegraben wird. Gleichzeitig mit dem Anwachsen der Fettpolster sinkt die Bereitschaft und Fähigkeit zu körperlicher Aktivität, der Mensch wird träge. Bewegung wird als unangenehm empfunden, weil dadurch in unserem Gehirn der Zucker knapp wird. Eine verstärkte Stressbelastung durch höheren Konkurrenzdruck, Hektik im Alltag, Schichtarbeit oder Zusammenleben auf engstem Raum könnte unter anderem erklären, weshalb es in den Industriegesellschaften immer mehr übergewichtige Menschen gibt.

Welche Rolle spielen andere Faktoren, beispielsweise die genetische Ver-anlagung oder die Tatsache, dass sich heute immer mehr Menschen von Fertigprodukten ernähren und zu stark kalorienhaltigen Getränken greifen?

Aus meiner Sicht gibt es für die Program¬mierung der Energieverwaltung des Gehirns generell drei Fehlermöglichkeiten, die das Gleichgewicht des Stresssystems verschieben und zu Übergewicht führen können: Hardwaredefekte, Softwaredefekte sowie Falschsignale. Hardwaredefekte können beispielsweise genetische Ursachen, Tumorerkrankungen oder Schädel-Hirn-Traumata sein. Als Softwarefehler, die Stoffwechselentgleisungen nach sich ziehen können, betrachte ich - neben Veränderungen durch psychische Traumatisierung aufgrund von Gewalt oder Misshandlung - auch schlechte Bewältigungsstrategien bei Arbeitslosigkeit oder Einsamkeit mithilfe von Alkohol oder exzessivem Computer-und Fernsehkonsum. Aber auch sogenannte Falschsignale sind in der Lage, das System durcheinanderzubringen. Das Gehirn wird getäuscht. So können beispielsweise Süßstoffe, die zwar süß schmecken, aber keinerlei Kalorien enthalten, das Gehirn erheblich irritieren. Ebenfalls im Verdacht, dick zu machen, stehen bestimmte Psychopharmaka, hormonähnliche Umweltschadstoffe wie Pflanzenschutzmittel oder Weichmacher in Kunststoffen und sogar bestimmte Grippeviren. Die Ursachen für die Adipositas-Epidemie sind also vermutlich sehr vielfältig und komplex.

Sie sind derzeit dabei, auf der Basis Ihrer Selfish-Brain-Theorie ein neuartiges Abnehmkonzept zu entwickeln. "Train the brain" haben Sie es genannt - "trainiere das Gehirn". Was ist das Besondere an der Methode?

Durch ein gezieltes Training und schrittweise Gewöhnung soll das Gehirn wieder so umprogrammiert werden, dass es die Energieressourcen besser zwischen Hirn und Körper verteilt. Es ist der Versuch, gegen ein krankhaftes Muster anzutrainieren. Erste Erfahrungen damit zeigen, dass es möglich ist, die entgleisten Stoffwechselreaktionen schrittweise wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Das funktioniert wie bei Spitzensportlern, die durch hartnäckiges Training das Energieverhältnis zwischen Gehirn und Körper immer mehr optimieren. Ich arbeite sehr eng mit meinem Kollegen Ulrich Schweiger von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zusammen. Wir setzen dabei neben regelmäßiger sportlicher Betätigung vor allem auf Verhaltenstraining, Verbesserung von sozialer Kompetenz und Problemlösung, und den Umgang mit Emotionen.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Alle Patienten erhalten psychotherapeutische Unterstützung bei der Bewältigung von Konflikten im Alltag. Sie lernen außerdem Achtsamkeitstechniken, um Emotionen besser wahrzunehmen und einzuschätzen. Verbote beim Essen wie etwa Kalorienrestriktionen gibt es im Prinzip nicht. Die Patienten sollen nur Lebensmittel mit künstlichen Süßstoffen und Aromastoffen meiden. Dreimal pro Tag dürfen sie sich richtig satt essen, trotzdem beobachten wir eine Gewichtsabnahme. Zwischenmahlzeiten sollen sie jedoch unterlassen, um Stressbewältigung mithilfe von Nahrungsaufnahme von vornherein zu unterbinden. Ziel unseres Therapiekonzepts ist, das Stresssystem wieder ins rechte Lot zu bringen. Positive emotionale Rückmeldungen, durch viele kleine Erfolgserlebnisse, können für eine Reprogrammierung und Stabilisierung dieses Systems sorgen.

GesundLeben
Interview: Rüdiger Braun

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