Doppelt so viel Geld wie für die Forschung gibt die Pharmaindustrie für Werbung aus und setzt lieber auf Altbewährtes als auf echte Innovation.
Herr Sawicki, sind Sie der meistgehasste Mann der Pharmaindustrie?
Nein, ich denke nicht. Ich glaube, dass unsere Arbeit - zumindest mittelfristig - der Pharmaindustrie dient. Wenn wir den Nutzen von Medikamenten beurteilen, und auch positiv beurteilen, hat die Industrie ein unabhängiges Argument für die gute Qualität ihrer Produkte. Stellen wir hingegen fest, dass ein Medikament keinen Nutzen besitzt, oder womöglich sogar schadet, schützt das die Industrie vor möglichen Regressforderungen. Wären wir im Fall Vioxx beispielsweise so verfahren, dann könnte sich die Firma Merck jetzt darauf berufen, dass die potenziellen Risiken bekannt waren.
Momentan fahren einige Pharmakonzerne eine Kampagne gegen das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Gesundheit und auch gegen Sie persönlich. Auslöser war Ihre Beurteilung, dass die teureren Insulin-Analoga gegenüber dem gängigen Humaninsulin keinen Vorteil bieten. Wie gehen Sie mit dem Druck um?
So etwas erlebe ich nicht zum ersten Mal, es gab in der Vergangenheit auch schon mehrfach unsachliche aggressive Vorwürfe und Kampagnen. Man personalisiert immer dann, wenn man keine guten inhaltlichen Argumente hat. Ein Kollege von mir spricht sogar schon von Dämonisieren. Weil ich das Institut nun mal vertrete, entlädt sich das vorwiegend an meiner Person.
Kriegen Ihre Mitarbeiter das auch zu spüren?
Nicht so persönlich, und das ist ja auch gut so. Aber natürlich lesen sie die Zeitungen und wenn in bestimmten Artikel behauptet wird, wir gefährden die Patienten, beugen die Wissenschaft, vernachlässigen oder fälschen Daten, dann verletzt das einen Wissenschaftler schon. Man versucht, das Institut zu diskreditieren, indem man den Eindruck erweckt, dass wir unwissenschaftlich arbeiten. Und vor allem will man bei den Patienten, Ärzten und Politikern den Eindruck erwecken, dass wir nur ein Sparinstitut sind mit wissenschaftlichem Deckmantel.
Wenn man sich Stellungnahmen von Diabetes-Verbänden anschaut, gewinnt man den Eindruck, dass den Patienten ihre Medikamente weggenommen werden sollen. Was droht den Zuckerkranken im schlimmsten Fall?
Wenn ein Verordnungsausschluss vom Gemeinsamen Bundesausschuss [GBA, d. Red.] verabschiedet werden sollte, dann bedeutet das zunächst einmal, dass ein Arzt einem Typ-2-Diabetiker nicht mehr routinemäßig Insulin-Analoga verordnen darf, sondern jeweils belegen muss, dass er nicht mit gängigem Humaninsulin behandelt werden kann. Sollte der GBA hingegen für die Insulin-Analoga einen Festbetrag einführen, dann könnten die Pharmafirmen ihre Preise auf den Festbetrag senken. Sollten sie das nicht tun, wie letztes Jahr im Falle des Cholesterinsenkers Atorvastatin von Pfizer [Handelsname Sortis, d. Red.], dann müssen die Patienten die preisliche Differenz zum Humaninsulin selber zahlen. Das könnte durchaus 20 Euro im Monat ausmachen.
Und wenn nun ein Diabetiker gut auf ein Insulin-Analogon eingestellt ist und aus finanziellen Gründen gezwungen ist, auf Humaninsulin zu wechseln?
Dann müsste er mit dem Arzt den Wechsel versuchen. Ich bin überzeugt, dass das in den meisten Fällen gut gelingt - vorausgesetzt, der Arzt beherrscht sein Handwerk. Sollte es nicht klappen, dann muss der Arzt begründen, dass die Therapie mit Humaninsulin nicht möglich ist. In diesem Falle würden weiterhin die Krankenkassen die Kosten übernehmen.
Ist die Umstellung für einen Typ-2-Diabetiker gravierend?
Nein. Man kann auch Humaninsulin direkt vor dem Essen spritzen - genauso wie bei den so genannten kurzwirksamen Insulin-Analoga.
Da wurden viele Ängste bei den Patienten geschürt...
Es geht nicht nur um Insulin-Analoga. Verschiedene Pharmafirmen haben den Vorwand der Verschlechterung der Patientenbehandlung benutzt, um einen Präzedenzfall zu schaffen. Würde es ihnen gelingen, nachzuweisen, dass wir mit unsauberen Methoden arbeiten, wäre es natürlich sehr viel einfacher, zukünftige Arbeiten des Iqwig anzuzweifeln. Aber es ist ja bisher niemandem gelungen, einen Fehler in unserer Arbeit nachzuweisen.
Die Pharmafirmen werfen Ihnen vor, zu wenige Studien bei Ihrer Beurteilung der Insulin-Analoga berücksichtigt zu haben - nur sieben Stück von über 1000. Wieso?
Es gibt zwei Erklärungen. Entweder diese Kommentatoren haben keine Ahnung, oder sie sind böswillig. Sehen Sie, wenn Sie eine Recherche machen, dann haben Sie erst einmal viele Treffer. Stellen Sie sich vor, Sie suchen bei Google nach dem Wort "Analoga". Dann kriegen Sie tausende Treffer. Doch wirklich relevant für Sie sind nur wenige. So auch bei den Studien. Manche beschäftigen sich mit lang wirkenden Insulinanaloga, andere mit der Wirkung an Zellen, Mäusen oder es geht um ganz andere Analoga. Letztlich gibt es nur sieben Studien, die kurz wirksame Insulin-Analoga mit Humaninsulin bei Typ-2-Diabetikern vergleichen. Eigentlich waren es sogar nur fünf - die Firma Lilly hatte uns zwei noch nicht publizierte Studien zugeschickt.
Der Vorwurf der beliebigen Literaturauswahl sollte vor allem den Ruf des Iqwig in der Öffentlichkeit beschädigen, wo man mit den Details einer wissenschaftlichen Bewertung nicht ganz vertraut ist. Das Ganze sollte so aussehen, als würde sich das Iqwig seine Datenbasis zurechtschustern, so wie es sie gerne hätte. Übrigens haben wir alle beteiligten Firmen ja gebeten, während der Arbeit an dem Bericht Studien einzureichen, die den wissenschaftlichen Kriterien genügen.
Sieben Studien sind nicht besonders viel...
Das ist in der Tat eher wenig. Insulin-Analoga gibt es seit zehn Jahren. Vor allem aber: Selbst diese sieben Studien sind alle nur Kurzzeitstudien. Es gibt keine einzige, die die Frage untersucht, wie sich Insulin-Analoga nach Jahren oder Jahrzehnten auswirken. Man muss die Frage stellen, warum sich die Pharmaindustrie solche Studien gespart hat, die für Patienten wichtige Fragen beantworten könnten...
Von den Pharmakonzernen wird für Werbung doppelt so viel Geld wie für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Die Zeche zahlen letztlich die Krankenkassen und damit die Versicherten. Kann das Iqwig dieser Entwicklung Einhalt gebieten?
Nein, das kann man nur gesetzlich regeln. Ich wäre dafür, dass Deutschland dem Beispiel anderer Länder folgt und mit der Industrie direkt die Preise verhandelt.
Im Moment setzt die Pharmaindustrie nach der Marktzulassung eines Medikaments den Preis fest - alleine. In keinem anderen Land der Welt ist das so, dass die Krankenkassen oder die Steuerzahler jeden Preis bezahlen müssen, den die Pharmaindustrie sich ausdenkt. Und so kann sie auch ohne weiteres beispielsweise ihre Aufwendungen für Pharmareferenten verdoppeln und die Kosten dafür auf die Medikamentenpreise umlagern. Auch das müssen letztlich wir bezahlen.
Es gibt also zu wenig Transparenz...
Nicht nur das - es gibt auch zu wenig Wettbewerb. Es kann doch nicht sein, dass wir auch noch die Manipulation der Pharmaindustrie durch Werbung oder bezahlte Veranstaltungen indirekt mit den hohen Arzneipreisen bezahlen! Das müssten die Konzerne schon selber tragen.
In vielen Ländern ist es so, dass wenn die Pharmaindustrie ein Produkt hat, das sie nicht nur den Privatpatienten verkaufen will, sondern auch der Solidargemeinschaft, sie sich mit einem ihrer Vertreter zusammensetzt. Meist ist das das Gesundheitsministerium oder eine Fachkommission. In Deutschland könnte diese Aufgabe zum Beispiel der Gemeinsame Bundesausschuss übernehmen. Und dann wird über den Preis verhandelt. Und zwar hart. Unser System hingegen ist der reinste Selbstbedienungsladen.
Am Beispiel Ratiopharm hat der stern gezeigt, wie massiv die Pharmaindustrie Ärzte und Apotheker zu ihren Gunsten beeinflusst. Wie weit reicht die Einflussnahme der Pharmakonzerne auf politischer Ebene?
Das Ausmaß der Einflussnahme hat das englische Unterhaus einmal untersuchen lassen. Ergebnis: vom Schulkind über die Krankenschwester bis hin zum Professor unterliegen alle Ebenen dem Einfluss der Pharmakonzerne. Und die Kosten dafür können sie sich zumindest in Deutschland über die Medikamente wieder reinholen.
Andere Länder haben längst Kontroll-Institutionen wie das Iqwig geschaffen. Das Iqwig wurde erst Mitte 2004 gegründet, vor gut einem Jahr haben Sie die Arbeit aufgenommen. Warum ist Deutschland so spät dran?
Auch daran können Sie den Einfluss der Pharmaindustrie ablesen. Manche Länder haben so etwas schon vor zehn Jahren geschafft, die ersten waren die Australier.
Die Pharmaindustrie hat immer gesagt, Deutschland sei die Apotheke der Welt. Aber so ist es ja nicht mehr. Es gibt auch kaum noch originär deutsche Pharmakonzerne. Und das war vor der schwarz-roten und auch vor der rot-grünen Regierung schon so. Die weltweit führenden Konzerne lassen ihre Forschung längst vor allem außerhalb Deutschlands stattfinden, viele Privilegien in Deutschland haben sie sich jedoch bis heute bewahrt.
Hat es in anderen Ländern auch solche Konfrontationen zwischen Pharmaindustrie und den Instituten gegeben? Wie sind diese ausgegangen?
Ja sicher, das hat es in allen Ländern gegeben. Das englische Institut "Nice"[National Institute for Health and Clinical Excellence, d. Red.] nahm seine Arbeit 1999 auf. Sein erster Auftrag war, das Antigrippemittel Relenza zu beurteilen. Es kam zu dem Ergebnis, dass Relenza sehr teuer und nur wenig wirksam ist. Danach gab es erheblichen politischen Druck; es gab Anfragen im Unterhaus, das Institut sofort wieder zu schließen. Daraufhin bewertete das Institut nicht mehr so streng. Und mittlerweile beschweren sich die Leute schon darüber, dass das "Nice" zu "nice" geworden sei.
In Australien ist die Lage anders - da nämlich wird auf Grund der Bewertung des Institutes über den Preis der Medikamente verhandelt. Sollte die Industrie zu sehr gegen das Institut agieren, kann die Regierung den Hebel ansetzen und die Verhandlungen - und somit den Kauf des Präparates durch die Solidargemeinschaft - aussetzen oder ganz stoppen.
Allgemein kann man sagen, dass die Pharmaindustrie sich gegen jeden Einschnitt wehrt. In Deutschland damals ja auch schon gegen die Zulassungsbehörden wie das BfArM [Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, d. Red.].
Inwieweit haben Sie beim Aufbau des Institutes auf Erfahrungswerte ausländischer Institute zurückgegriffen?
Ich habe die Erfahrungen meiner ausländischen Kollegen berücksichtigt, jedoch sind sie nur begrenzt übertragbar, weil viele Institute auch selbst die Entscheidungen über die Kostenerstattung treffen. Das tun wir nicht, sondern wir liefern nur die wissenschaftliche Grundlage, auf deren Basis dann der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet. Ich halte diese Struktur im Vergleich für besser, weil sie die Entscheidungsebene von der wissenschaftlichen trennt und damit weniger angreifbar macht.
Es war klar, dass wir auf massiven Widerstand treffen würden. Dennoch haben wir uns nicht gescheut das wichtige Thema der Insulin-Analoga aufzugreifen und darum die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu führen. Das nächste Thema, welches das Iqwig angehen wird, wird ähnlich brisant und vom wirtschaftlichen Volumen her noch eine Potenz höher sein. [Mit Insulinanaloga machen die Konzerne Sanofi-Aventis, Novo Nordisk und Lilly in Deutschland einen Umsatz von 330 Millionen Euro im Jahr, d. Red.]
Das Iqwig hat eine Zusammenarbeit mit seinem britischen und französischen Pendant beschlossen. Würde ein europäisches Institut nicht Sinn machen?
Eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene ist äußerst sinnvoll. Zwar nicht in allen Bereichen, aber was die Beurteilung von Medikamenten angeht könnte man sich die Arbeit aufteilen. Wir werden uns diesen Sommer treffen und uns auf gemeinsame Vorgehensweisen und methodische Standards einigen. Ein Institut für den europäischen Raum einzurichten dürfte schwieriger sein, weil sich in der medizinischen Versorgung die Länder unterscheiden und diese auch unterschiedlich beurteilen. Die Engländer beispielsweise gehen da viel wirtschaftlicher ran: Ein gewonnenes Lebensjahr darf dort maximal 30.000 Pfund kosten. Stellen Sie sich solch eine Aussage mal in Deutschland vor!
Der Gemeinsame Bundesausschuss wird bald eine Entscheidung in Sachen Insulin-Analoga treffen. Es ist jedoch zugleich der erste Härtetest, ob man es ernst meint, im deutschen Gesundheitssystem mehr auf Qualität und Wirtschaftlichkeit zu setzen. Was erwarten Sie?
Ich glaube, für Deutschland gibt es keinen anderen Weg. Es geht für mich nicht darum, um jeden Preis zu sparen, sondern darum, ernsthaft zu überlegen, wofür wir zukünftig das Geld ausgeben, genau zu beurteilen, was nützt und was nicht nützt. Es gibt keine Alternative. Die Zeiten, wo das Geld im Überfluss für alle da war, sind vorbei.
Sie erwarten, dass der Gemeinsame Bundesausschuss der Empfehlung des Iqwig folgen wird?
Wir haben ja keine direkte Beschlussempfehlung gegeben; wir haben die wissenschaftlichen Fakten auf den Tisch gelegt: Ein zusätzlicher Nutzen der Insulin-Analoga gegenüber dem Humaninsulin ist wissenschaftlich nicht belegt. Jetzt muss der Gemeinsame Bundesausschuss entscheiden, ob Insulin-Analoga nur noch in Ausnahmefällen verordnungsfähig sind, oder er beschließt einen Festbetrag. Letzteres wünsche ich mir nicht, denn wenn dann die Pharmafirmen den Preis für die Insulin-Analoga nicht senken sollten, müssen die Patienten die Differenz selber zahlen.
Das Iqwig soll bald noch einige andere Bestseller der Pharmaindustrie auf den Prüfstand stellen: Medikamente gegen Gefäßkrankheiten, Bluthochdruck, Alzheimer, Asthma, sowie Diabetes- und Insulinersatzmedikamente und Antidepressiva. Sollten sich auch hier einige Präparate als Scheininnovationen erweisen, wäre das eine ernsthafte wirtschaftliche Bedrohung für die Pharmaindustrie. Sind Sie zuversichtlich, dass das Iqwig auch weiterhin seine Arbeit wie bisher machen kann?
Ja, da bin ich sehr zuversichtlich. Ich glaube, auch die Firmen werden den Zustand akzeptieren, dass es jetzt auch in Deutschland eine unabhängige Bewertung des Nutzens gibt. Ich nehme an, dass die Industrie zukünftig stärker versuchen wird, den Nutzen für ihre Präparate zu belegen. Und das wird natürlich Folgen haben für die Auswahl der Entwicklungsstufen.
Ich erhoffe mir wenigstens eine kleine Richtungsänderung der Pharmaindustrie, dass sie sich zukünftig wieder mehr mit wirklichen Innovationen befassen wird und nicht mehr nur ihre eigenen Präparate kopiert. Dass sie zum Beispiel Fragen angeht, wie man Metastasen bei Krebserkrankungen stoppen kann. Oder wie man Multiple Sklerose heilt. Überhaupt kann es nicht sein, dass manche Krankheiten außen vor gelassen werden, nur weil sie sich wirtschaftlich nicht lohnen. Durch das Kopieren von bereits Vorhandenem - und das betrifft ja rund drei Viertel aller neu zugelassenen Präparate - ist kein Fortschritt zu erwarten.
Natürlich sind innovative Präparate teuer - aber das kann man gegenüber der Solidargemeinschaft auch ganz anders belegen. Leute, ihr müsst jetzt zwar mehr zahlen, aber dafür können wir Krebspatienten heilen - das versteht jeder. Heute ist es aber so, dass man den Leuten mehr Geld aus der Tasche nimmt, sie sich aber fragen wofür.
Sollte man solch sensible Forschung überhaupt Konzernen überlassen?
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man lässt medizinische Forschung, die sich marktwirtschaftlich nicht lohnt, von unabhängigen, steuerfinanzierten Instituten machen - wie zum Beispiel vom Paul-Ehrlich-Institut. Oder man schafft finanzielle Anreize für die Industrie, dass sie solche Forschung wieder angeht und ihr eigener Slogan tatsächlich wieder gilt: Forschung ist die beste Medizin.
Nur ist es leider nicht so - geforscht wird von den Konzernen viel zu wenig. Die wirklichen Innovationen werden an den Universitätsinstituten gemacht, bezahlt von unseren Steuergeldern. Die Ergebnisse kauft dann die Pharmaindustrie für einen Appel und ein Ei, entwickelt sie zu zulassungsfähigen Medikamenten, die sie uns dann wiederum teuer verkauft. Wir zahlen die Zeche also zweimal.