Der Abspann des Films läuft und mit ihm auch ein paar Tränen, während das Publikum den Kinosaal verlässt und sich die letzten Reste Popcorn von den Hosen klopft. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach, denkt an die Abschiede und Entscheidungen, an all die vergangenen Leben - und an den Versuch, sie wieder und wieder in Einklang zu bringen, um im Jetzt anzukommen.
"Past Lives" ist das Regiedebut der 34-Jährigen Celine Song. Angelehnt an ihr Leben erzählt Song, gleichzeitig Drehbuchautorin, die Geschichte von Na Young (Greta Lee), die als Zwölfjährige mit ihrer Familie aus Südkorea nach Kanada zieht. Als sie in das Flugzeug steigt, lässt sie ihre Heimat und einen Jungen zurück, Hae Sung (Teo Yoo). Die beiden verlieren sich aus den Augen, können einander nicht vergessen, finden sich Jahre später, zunächst virtuell, wieder. Hae Sung ist in Korea, Na Young, die inzwischen Nora heißt, in New York City.
Ein Leben zwischen zwei Welten
Wieder Jahre später beschreibt Noras Ehemann Arthur (John Magaro) das Spannungsfeld, in dem die Charaktere im Jetzt zueinanderstehen: "Was für eine gute Geschichte das ist: Kindheitsfreunde, die sich zwanzig Jahre später wiederfinden und erkennen, dass sie füreinander bestimmt waren." In der Geschichte sei er der böse weiße amerikanische Ehemann, der dem Schicksal im Weg stehe. Der Film spielt mit der koreanischen Bezeichnung für diese Art der Vorbestimmung, der unvermeidlichen Verbindung: "In-Yun". Es bedeute "Vorsehung oder Schicksal". "Wenn zwei Fremde auf der Straße aneinander vorbeigehen und ihre Kleidung sich zufällig berührt", so Nora, bedeute das, dass es tausende von Schichten von In-Yun zwischen diesen beiden gegeben habe. Vergangene Leben würden zu Begegnungen im Jetzt führen.
Die Geschichte spannt sich auf zwischen drei Menschen, doch auch zwischen den zwei Welten der Protagonistin. Autorin und Regisseurin Song versucht einzufangen, was schwer zu beschreiben ist: Welchen Einfluss der Moment hat, in dem sich Noras Leben in zwei Geschichten aufspaltet, in das, was ist, und in das, was hätte sein können. In ein Leben, das sie tatsächlich lebt und in ein ungelebtes Leben, eines, das hätte sein können. Aus Na Young wurde Nora.
Doch was wäre wenn? "Wenn du Seoul nie verlassen hättest, hätte ich dann trotzdem nach dir gesucht? Wären wir zusammengekommen? Hätten wir uns getrennt? Geheiratet? Hätten wir gemeinsam Kinder bekommen?", fragt Hae Sung Nora bei ihrem Wiedersehen.
Hae Sung sei für lange Zeit "dieser Junge in meinem Kopf gewesen", wie Nora es Arthur versucht zu erklären. "Ich glaube, ich habe ihn einfach sehr vermisst. Ich glaube, ich habe Seoul vermisst." Hae Sung steht auch für Noras Heimat, Vergangenheit, für ein anderes Leben. Er ist Teil ihrer Identität. Durch sein Auftauchen droht es sie zwischen ihrem Leben, und dem, was hätte sein können, zu zerreißen. Diesen Spagat auszubalancieren, ist Noras Lebensaufgabe. In Noras Charakter trifft die Wucht der emotionalen Komplexität dessen aufeinander, den stetigen Abschied zu akzeptieren und gleichzeitig die Chance des Neubeginns zu bewahren. Dabei ist Nora diejenige, die nicht im "Was wäre wenn" leben will, die tatsächlich erfolgreich ihren Träumen nachjagt und Entscheidungen für ihr eigenes, ihr echtes Leben trifft.
Jeder war einmal Nora, Arthur oder Hae Sung
Die Charaktere in "Past Lives" sind vielschichtig und jeder von ihnen bietet Anknüpfungspunkte für die Menschen im Publikum. Jeder war einmal Nora, die versucht, mit ihrer ersten Liebe abzuschließen; jeder war einmal Arthur, der sich unsicher ist, ob er der beste Partner für seine große Liebe ist; jeder war einmal Hae Sung, der sie einfach nicht vergessen kann, und befürchtet, sie ziehen lassen zu müssen.
Vor allem Teo Yoo überzeugt mit der Darstellung des stillen, zurückhaltenden Hae Sung, der mit wenigen Worten einen so ganz anders liebenden Mann darstellt: verwundbar. Im Moment, als er auf sie in New York wartet und eigentlich nur dasteht, wird seine Nervosität, Verlorenheit und Vorfreude in einer einzigen Geste transportiert: Hae Sung betrachtet sein Spiegelbild in der Wasseroberfläche eines Tümpels und fährt sich mit der Hand wackelig durch die Haare.
Schauspielerin Greta Lee erzählt, dass sich die beiden Schauspieler vor dieser entscheidenden Szene, in der Hae Sung und Nora zum ersten Mal wieder zueinander finden, nicht vorher gesehen hatten. "Wir wollten einfangen, wie dieser Moment wirklich sein könnte”, so Lee. In der Szene im Film entfährt Lee wiederholt ein ungläubiges "whoa", während ihr Charakter Nora Hae Sung strahlend ansieht.
New York City – fast unwirklich schön
Ein Nebendarsteller im Film ist New York City: Fast unwirklich schön auf 35mm Film gedreht, wirkt dieses ästhetische New York in zurückhaltend pastelligen Farben wie aus der Zeit gefallen. Regisseurin Song sagt über den Dreh in New York, dass es ähnlich sei, wie in New York zu leben: unmöglich, aber man schaffe es irgendwie – und es lohne sich immer. "New York ist eine Stadt, die dich nicht braucht. Deshalb gibt es Momente, in denen New York City dich lieben wird", sagt Song. Und geliebt zu werden, ohne gebraucht zu werden, das sei ein wichtiger Teil des Films. Abendliche Spaziergänge an Brownstone-Häusern entlang bis hin zu Jane’s Carousel am East River in Brooklyn, direkt unter der Brooklyn Bridge, noch mit Blick zur Manhattan Bridge. Ein Sehnsuchtsort, an dem Hae Sung und Nora den vergangenen 20 Jahre nachspüren, wie einem Lied, dessen letzte Akkorde nicht enden wollend nachhallen.
Co-produziert wurde "Past Lives" vom trendigen Filmverleih A24, der bei den Oscars dieses Jahr abräumte mit dem Film "Everything, everywhere, all at once". Die Filmproduktionsgesellschaft ist eine der wenigen, die trotz des andauernden Streiks der Autoren und Schauspielerinnen in Hollywood zwei Filme weiterdrehen darf – weil sie Forderungen der SAG-AFTRA akzeptierten.
Behutsam, unaufdringlich und in ehrlicher Poesie
Der Film erzählt behutsam, unaufdringlich und in ehrlicher Poesie von den Menschen, die bleiben, auch wenn man sie über Jahrzehnte nicht gesehen hat. Fragt, was von der Erinnerung bleibt. Er erzählt von dem kleinen Kosmos, der sich zwischen zwei Menschen auftut, wenn sie sich ansehen und es nicht so wichtig ist, ob man über die großen Themen des Lebens spricht oder die Nichtigkeiten des Daseins. Denn es gibt wenig zu sagen, wenn man etwas weiß, ohne es verstehen zu müssen.
Der Film kratzt am Verständnis von Liebe: Wie viel Pragmatismus braucht es? Wie viel Raum bekommt die Irrationalität? Wie viel ist kindliche Liebe, und wann geht es nicht ohne Bedingungen? Bricht die Liebe über einen herein, wie ein Schicksal, In-Yun? Ist die Liebe eine Entscheidung? Was passiert, wenn sich jemand entscheidet in dem Wissen, dass ein Teil des anderen verborgen bleiben wird, unabhängig davon, wie viel Liebe es zwischen zwei Menschen gibt? An einem Punkt im Film gesteht Arthur Nora, dass er sie im Schlaf manchmal reden höre und sie nicht verstehe, da sie auf Koreanisch träume. Er fühle sich, als kenne er diesen Teil von ihr nicht. Als könne er diesen Teil von ihr nie kennenlernen.
Es geht darum, seinen Frieden zu machen
Zwei Stunden nach dem Kino-Besuch dringt durch die Stille einer L.A.-Nacht das Summen eines Deckenventilators. "Ich frage mich, wen der beiden sie am Ende wirklich gemocht hatte…”, sagt mein Filmpartner. "Past Lives" plätschert in sanften Wellen nach.
Doch es läuft nicht auf die große Entscheidung hinaus. Es ist nur ein Schritt in die eine Richtung, nach vorne; gleichzeitig ein Schritt weg von etwas anderem. Es geht darum, im Jetzt Frieden zu machen nicht trotz, sondern mit all den vergangenen Leben, die in uns wohnen, ohne einer endlosen Traurigkeit nachzugeben.