22-jährige Künstlerin "Hit Me Hard and Soft" von Billie Eilish: Das ehrlichste Album dieses Sommers

Billie Eilish, kniend, schaut in die Kamera
Äh, bitte alle mal lässig bleiben: Billie Eilish ist mit nur 22 Jahren ein Darling der Unterhaltungsindustrie.
© Petros Studio
So hört sich das also an, wenn jemand mit gewaltigem Können Musik aus sich selbst macht: "Hit Me Hard and Soft" von Billie Eilish ist nicht nur das meisterwartete, sondern auch das ehrlichste Album dieser Tage.

Wer sich noch an die Schulhöfe von früher erinnert oder sie heute noch kennt, hat die Revierhaftigkeit dieser Pausenzonen gewiss vor Augen. Rechts hinten in der Ecke die Supercoolen, in deren Kreise man selten kam, davor die nicht ganz so Coolen, die alles abschauten und nachmachten. In der Mitte die Ratlosen, die zu viel herumliefen in der Hoffnung, entdeckt zu werden. Wurden sie nie. Schulhöfe waren und sind bis heute Mikrokosmen einer Bedeutungswelt, hier wird früh gecheckt, was zur jugendlichen Vanitas wird, hier wird gewonnen und verloren und hier ist der Selbstwert noch eine zarte Pflanze. 

Und auf diesen Schulhöfen gab und gibt es immer die Lauten und die Leisen, den Jungs wie bei den Mädchen – aber Moment, bleiben wir mal bei den jungen Frauen. Um die Hoheit über ihre Bedeutung zu bekommen und zu behalten, müssen sie heute schnell und laut sein, in der hegemonialen Social-Media-Kultur ihre Wörter und Posts wie Pyros abbrennen, und vor allem immer die Ersten sein, was dazu führt, dass sie zwar über jeden und alles andere reflektieren und urteilen. Aber fast nie über sich selbst. 

Womit wir doch wieder bei den Leisen sind, den Kontemplativen, das Leben Betrachtenden, Schulhofecke links, nicht supercool, sondern ultracool. Nimmt man jetzt diesen Schulhof als Metapher für das, was sich in den vergangenen Wochen in der internationalen Popmusik abgespielt hat, wir rekapitulieren kurz:Taylor Swift und Beyoncé haben den Markt mit massig neuen Songs beliefert und beladen, insgesamt 58, die man erstmal hören muss – ja, dann wird dieser Schulhof aber trotzdem erst jetzt mit "Hit Me Hard and Soft" der 22-jährigen Billie Eilish vollständig oder, anders gesagt: ultracool.

Die Leise, die das Leben und sich selbst Betrachtende

Denn Eilish ist die in der Schulhofecke links, die Leise, die das Leben und sich selbst Betrachtende, die nicht schon sechs Freunde oder mehr hatte; die zwar reich, aber nicht Milliardärin ist, und die ihre Musik seit nunmehr drei Alben immer zusammen mit ihrem Bruder Finneas O’Connell komponiert und produziert. Bruder und Schwester muss man sich im Studio wie in einer Kapsel vorstellen, einer introspektiven Sphäre in Los Angeles, in der Eilish 2019 mit "When We Fall Asleep, Where Do We Go" ihr erstes, damals noch trübgefärbtes Hitalbum einspielte und mit einem Mal der adoleszenten Depression und dem Weltschmerz zigtausender junger Frauen eine mächtige Stimme gab. 

Seitdem ist viel passiert und Billie Eilish zu einem Darling der Industrie geworden, der reihenweise Grammys gewann, 2022 gar den Oscar für den Bond-Song "No Time To Die". Ihr eigenwilliger Style war Titelthema in der "Vogue". Es ging alles so weit, dass man das Gefühl hatte, Eilish habe vielleicht doch die kontemplative Ecke des Lebens verlassen, um im Spiel der vanity fair, der Messe der Eitelkeiten, mitzumischen. Ihr zweites Album "Happier Than Ever" hatte denn auch Anklänge eines musikalischen Kreisverkehrs.

Es sind Songs, nein: Selbstbetrachtungen einer nun erwachsen werdenden Frau, die, nachdem sie als queer geoutet wurde, das Heft der sexuellen Eigenerkundung sehr entschieden in die Hand nimmt. 

Aber nun das: "Hit Me Hard and Soft", zehn Lieder nur, die aber so vielfältig, kompakt und in sich reich an musikalischen Intarsien sind, dass sie völlig ausreichen. Es sind Songs, nein: Selbstbetrachtungen einer nun erwachsen werdenden Frau, die, nachdem sie als queer geoutet wurde, das Heft der sexuellen Eigenerkundung sehr entschieden in die Hand nimmt. 

Albumcover von Billie Eilishs "Hit Me Hard and Soft"
Billie Eilish
"Hit Me Hard and Soft"
(Interscope/Universal)

Billie Eilish: zehn Songs – vielfältig, kompakt und in sich superreich

Denn sie habe das Album in einer Zeit aufgenommen, in der Sex für sie zu einem bestimmenden Thema wurde, über das sie auch viel nachdenken und sprechen würde. Genauso wie über Masturbation. "Ich muss sagen, dass es sehr hilfreich ist, sich im Spiegel zu betrachten und zu denken: Ich sehe gerade wirklich gut aus", lässt Eilish wissen. Und, ohne hier vulgär zu werden: So hört sich das Album auch an. 

Selbstbetrachtung und Befreiung kennzeichnen den Auftaktsong "Skinny", der einen zunächst elegisch und sommerlich-verträumt anweht und wie ein Versprechen zu dem klingt, was noch kommt. "Lunch" nämlich nächstens, eine derart präzise und sauber eingespielte Pop-Komposition, in der etliche Instrumente wie Accessoires appliziert sind, und wo der Rhythmus am Ende fröhlich und geradezu selbstironisch roboterhaft klingt. 

So, und spätestens jetzt sollte man "Hit Me Hard and Soft" einmal über Kopfhörer anhören, denn wie Eilish und O'Connell da im Studio Instrumente, Synthesizer, Halleffekte und Chor zu einem musikalisches Wimmelbild verschmelzen lassen, kapiert und bewundert man besser, wenn es wie ein Bach dicht und direkt in den Kopf rauscht. Hier noch ein Ton und da hinten ein lustiger Basslauf und, ach, da, die Gitarre – und war das eben ein Triangel? Wunderbar.

Bemerkenswert dicht an dem, was man Lebensgefühl nennen kann

Und mit "Chirio" gleich es weiter, eine souverän gesungene Selbsterkundung, die beim Hören über die Ohren über den eigenen Körper davonspaziert, sich hier mal wundert und dort mal staunt, aber die Reflexion immer aus der Düsternis des Vergeblichen oder Verlorenen herausrettet. Hier ist Eilish ganz dicht an dem, was man Lebensgefühl nennen kann. Um gleich danach mit "Birds of a Feather" einen fast konventionellen Standard zu setzen: sauberer, klarer Drum-Rhythmus, gut gemacht für Minimal Dance in Clubs, vielleicht aber auch das ungewagteste Stück des Albums. So wie auch "Wild Flower", einem Song, der vor sich hinträumt und am Ende auf hohem Niveau zwischen den Fingern gerinnt.

Hatte man bei Eilishs Alben zuvor das Gefühl, der Motor sei der Leidensdruck, sind auf diesem Album einige Stücke, die dem Hörer die Freiheit geben, den Sound als Gefühl und nicht als Therapie wahrzunehmen.

Hatte man bei Eilishs Alben zuvor immer das Gefühl, der Motor der Musik sei der Leidensdruck, sind auf diesem Album nun einige Stücke, die dem Hörer die Freiheit geben, den Sound als Gefühl und nicht als Therapie wahrzunehmen. Was man besten bei "L‘amour de ma vie" heraushört, einem komplexen Fünf-Minuten-Lied, in dem man den großen Spaß der Sängerin spürt, einfach herumzuspielen, um im letzten Drittel den Song abrupt in ein Disco-Pop-Finale mit KI-verzerrter Stimme hochzupushen – und dabei offen zu lassen, ob und wie ironisch das alles gemeint sein könnte. 

Im Unterschied zum dem Hype, Rausch und auch Wahn um Taylor Swift und zur sehr professionellen Berechnung und Vorhersehbarkeit einer Beyoncé hat Billie Eilish einfach mal wieder mit großem Können Musik aus sich selbst gemacht, und damit zweifelsohne das ehrlichste Album des Sommers geliefert. Weil sie sich immer noch so erforscht, wie das Frauen mit 22 nun mal tun. Und weil sie dabei immer wieder große Erkenntnisse gewinnt – sie, die Ultracoole, vom Schulhof links.

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