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Lesetour für "Mädchen für alles" Warum Charlotte Roche die Zuhörer weglaufen

Bei "Feuchtgebiete" stürmten ihre Fans die Vorlesungen: Doch Charlotte Roche laufen bei ihrer Lesetour zum neuen Buch "Mädchen für alles" die Zuhörer weg. Das könnte an ihrer versexten Verkaufsstrategie liegen.
Von Stephan Draf

Eine Lesetour mit Charlotte Roche, das war der Plan. Sehen, wie die Bestseller-Autorin auf ihre Leserinnen trifft, wie sie, die durch Jahre im Live-Fernsehen gestählte Rampensau, eine bestimmt unterhaltsame Show präsentiert, zu ihrem neuen Buch "Mädchen für alles".

Eine Woche vor dem geplanten Treffen bei ihrer Lesung im Barmer Bahnhof in Wuppertal, ein Anruf der Managerin Roches: Man müsste leider verschieben, Frau Roche sei zu nervös, müsste sich erst "eingrooven" mit den Leserinnen, man möge Verständnis haben. Man hatte, zähneknirschend. Und beschloss, trotzdem zu den Lesungen in Wuppertal und tags darauf in Bonn zu fahren, um sich eine nervöse Frau Roche anzuschauen.

Denn die Frage blieb ja: Charlotte Roche, die Autorin des ungeheuer erfolgreichen Skandal-Buches "Feuchtgebiete" - zu aufgeregt, um sich bei Lesungen begleiten zu lassen? Jene Roche, die vor dem Erscheinen ihres neuen Buches durch ein halbes Dutzend Fernsehshows stiefelte und auf der Buchmesse in einem Live-Interview fröhlich erzählte, dass das "Schreiben von Sexszenen meine Kernkompetenz ist" - diese Frau, ängstlich?

Drei Tage vor der Lesung in Wuppertal ein kurzer Adressencheck im Netz, auf der Seite des Barmer Bahnhofs standen rote Buchstaben: "Die Veranstaltung ist abgesagt.". Oha. Also sodann nach der Veranstaltung in Bonn geschaut, angesetzt am nächsten Tag: abgesagt. In den nächsten Tagen kamen Termin-Infos für die nächste Lesungswoche hinzu: Würzburg - abgesagt. Mainz – "aus produktionstechnischen Gründen abgesagt."

Von sechs Lesungen in den ersten zehn Tagen der Tour - vier abgesagt. Zu wenig Karten verkauft, drucksten die Veranstalter bei Kontrollanrufen. Schließlich ein Anruf des Verlages: Im Moment werde das mit der Begleitung der Tour nichts, Frau Roche fühle sich einfach nicht gut, ob man nicht im Dezember kommen wolle, in Hamburg sei eine bestimmt schöne Veranstaltung angesetzt. Das sei zu spät, sagte man - aus dem Gespräch mit Frau Roche wurde also nichts, schade.

Und doch blieb man ratlos zurück: Was ist da passiert? Warum kommen die Leute nicht mehr, um Roche lesen zu hören, performen zu sehen? Immerhin waren ihre Lesungen zu "Feuchtgebiete" überfüllt, auch ihre Shows zum Nachfolger "Schoßgebete" wollten viele sehen. Und jetzt - Absagen?

"Mädchen für alles" ist kein schlechtes Buch

Dabei ist Roches neues Buch ziemlich interessant und literarisch betrachtet keineswegs schlecht, allerdings: Um Sex geht es eher nicht. Sondern um Chrissi, bürgerlich: Christine Schneider. Aus deren Blickwinkel Charlotte Roche so konsequent und ausschließlich erzählt, dass es einem Bewunderung abnötigt, ob dieser erzählerischen Chuzpe. Und man Frau Roche ihren dezidiert feministischen Ansatz jedenfalls vollkommen abnimmt. Chrissi ist nämlich keineswegs so alleinstehend wie die Erzählperspektive suggeriert, sie lebt mitten in dieser Welt, wenn auch im durchaus wohlhabenden Teil der Mittelschicht, großes Haus und Riesenküche inklusive.

Aber verheiratet ist sie schon, mit dem Jörg, und sie ist Mutter, von Mila, etwa ein Jahr alt. Erstaunlich, wie Roche mit diesen Beziehungen umgeht: Wir Leser erfahren im ganzen Buch überhaupt nicht, wie Jörg aussieht, wie er denkt - nur dass er einer dieser modernen Schluffis ist, einer, der sich um sein Kind kümmert, einer, der auch mal im Haushalt hilft. Chrissi hasst ihn jedenfalls und hat gleichzeitig Angst vor ihm.

Sex? Ja, aber nur auf Seite 170

Ähnlich im absichtlich Ungefähren bleibt das Kind - über Milas Aussehen erfahren wir nicht mehr, als dass das Mädel blonde Haare hat. Roche suggeriert geschickt, dass auch die Mutter nicht viel mehr weiß, Chrissi ist zwar Mutter geworden, die Rolle aber lehnt sie herrlich konsequent ab. Worauf der Jörg eine Babysitterin ins Haus holt, ein "Mädchen für alles". Was Chrissi zunächst gar nicht gut findet - ihr Kerl will doch was von der, das wird sie zu verhindern wissen, dieses Mädel holt sie sich selber ins Bett. Sie ist zwar nicht lesbisch und hatte auch noch nie etwas mit einer Frau, aber wegnehmen lässt sie sich nichts.

So setzt Roche ihre Handlung auf die Gleise, es gibt schlechtere Settings. Und es gab in diesem Bücherherbst nicht viele Protagonistinnen, die so präsent waren. Allerdings eben nicht, was ihr sexuelles Verlangen angeht, da gibt es viel Drastischeres. In "Mädchen für alles" steht die einzige ausführliche Sexszene so etwa auf Seite 170.

Was man liest: Das Porträt einer Frau, die Panik hat. Vor ihrem Mann. Ihrem Kind. Vorm Leben in Gänze. Die sich deshalb versteckt: Unter ihrer Bettdecke, ganze Tage, im Alkoholnebel - am liebsten trinkt sie übrigens Bier, ein feiner Zug der Autorin. Die an ihrer Heldin in der Folge ziemlich konsequent ziemlich interessante Themen entwickelt: Was mache ich mit einer Angst, wenn ich mit niemandem darüber reden kann? Was mache ich, wenn diese Mutter-Sache so wirklich gar nicht meins ist? Und was mache ich mit meiner Wut, dieser großen, bösen, sehr, sehr gut hingeschriebenen Wut, die Roche auf jeder Seite aufblitzen lässt? 

Sex? Zum Gähnen!

Und warum will diese Themen keiner hören? Wahrscheinlich, weil Roche sie kaum erwähnte. Weil sie in jedem Interview bereitwilligst und oft zuvorderst über Sex sprach. Weil sie Stefan Raab, der sie in seiner Show schon im ersten Halbsatz auf die einzige Sex-Szene im Buch ansprach, nicht erwiderte, dass es darum doch gar nicht gehe, sondern antwortete: "Und, hattest du einen stehen?" Womit das Thema gesetzt war, um dass es nun in den meisten Interviews ging. Die "Süddeutsche Zeitung" ätzte schließlich: "Ach, wäre das nicht überhaupt ganz ausgezeichnet, wenn künftig kein einziger Roman in Deutschland mehr erscheinen könnte, ohne von Charlotte Roche hergestellte und zertifizierte Sexszenen zu enthalten?"

Roche verprellt ihre Leserinnen

Wahrscheinlich hat Roche mit diesem falschen Akzent genau jene Leserinnen verprellt, die noch vor gut sieben Jahren ihre "Feuchtgebiete"-Lesungen stürmten - weil sie es befreiend fanden, dass eine der ihren, eine damals knapp 30-Jährige Autorin, derart offen über frauliche Körperlichkeit schrieb. Heute aber sind Autorin und Leserinnen älter geworden, entscheidende Jahre sind ins Land gegangen, mutmaßlich ist die eigene Körperlichkeit nicht mehr das Thema, was diese Leserinnen umtreibt. Das es im Buch eigentlich um andere, mutmaßlich spannendere Dinge geht, um Wut, um Angst, auch um Einsamkeit, das konnte keine ahnen, die Roche und "Mädchen für alles" zunächst über die Medien wahrnahm.

Und so bleiben sie jetzt weg, die Leserinnen, von den Lesungen, aber auch im Buchhandel - der Roman ist auf Platz sechs der Paperback-Liste eingestiegen, das wäre für andere Bücher ganz ordentlich. Für das neue Buch einer Autorin, die mit ihren vorgegangenen Romanen Millionenauflagen erzielte, ist das schlicht enttäuschend.

Auf der Buchmesse wurde Charlotte Roche gefragt, wo ihr Weg hingehe, ob sie Fernsehfrau sei oder Autorin. Ach, sagte sie, mit dem Fernsehen wolle sie nicht abschließen, noch nicht. Aber Autorin, ja, das würde sie jedenfalls gerne sein, das höre sich gut an. Nun ist aber der Weg der sehr erfolgreichen Autorin Charlotte Roche vielleicht vorbei. Was nicht heißt, dass sie keine gute ist.

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