Eine Minute nach Mitternacht - mit dem Beginn der Geisterstunde - verschickt die Presseabteilung des Lübbe-Verlages die Datei mit dem neuen Thriller von Dan Brown per Mail an Journalisten im ganzen Land. Geheimhaltung bis zuletzt. Über Nacht sollen Kritiker das Buch lesen. Sich in nur neun Stunden, bevor der Roman in den Buchläden ausliegt, ein Urteil bilden.
Der heimische Drucker braucht Minuten, bis er die 685 Seiten ausgespuckt hat. Ein Stapel Papier, fast zehn Zentimeter dick. Was für eine Zumutung, denkt man. Bis man anfängt zu lesen.
Robert Langdon, Professor für Kunstgeschichte an der Harvard University, wacht schwer verletzt in einer Klinik in Florenz auf. Er kann sich nicht erinnern, was geschehen ist und wie er nach Italien gekommen ist. In seinen Träumen sieht er eine Frau mit langen, silbernen Haaren, die ihm etwas sagen will. Doch Langdon versteht ihre Botschaften nicht.
Die Ärztin und der Professor
Noch bevor der Professor wieder richtig zu sich gefunden hat, stürmt eine Berufskillerin die Klinik. Erschießt bei dem Versuch, Langdon zu töten, seinen Arzt. Der Professor, der keine Ahnung hat, wer ihn umbringen will und warum, flieht mit seiner Ärztin Dr. Sienna Brooks.
In Langdons Jackentasche entdeckt Brooks, deren IQ über 200 liegt, wenig später ein schlankes, metallenes Objekt mit einem seltsamen Piktogramm. Wieder ist Langdon ahnungslos. "Was zum Teufel macht das in meiner Jacke? Ich bin Professor für Kunstgeschichte."
Stück für Stück kommt das Duo einer Verschwörung auf die Spur, die ihre Wurzeln in einem der berühmtesten und düstersten Werke der Literatur hat: Dantes Göttliche Komödie.
Spätestens ab Seite 200 weiß der Leser, worum es geht: Faschisten wollen die Weltbevölkerung dezimieren. Denn auf der Erde ist kein Platz für alle. "Wenn Sie mehr sauberes Wasser pro Kopf wollen, müssen Sie die Zahl der Köpfe verringern ... Wenn Sie wollen, dass sich der Fischbesatz in den Ozeanen regeneriert, brauchen Sie weniger Leute, die Fisch essen." Die Faschisten hegen einen teuflischen Plan. Es liegt an Langdon, die Welt zu retten. Doch die Zeit läuft ihm davon.
Spannung trotz Kitsch
"Ungenießbare Fertiggerichte", seien die Bücher von Dan Brown schimpfte Autoren-Kollege Stephen King. Tatsächlich trägt Brown wohl ein bisschen zu dick auf, wenn er über seinen Thriller behauptet: "Alle Werke der Kunst und Literatur in diesem Roman existieren wirklich. Die wissenschaftlichen und historischen Hintergründe sind wahr."
Brown neigt außerdem zum Kitsch. Die Frau mit dem silbernen Haar, ist "von atemberaubender Schönheit". Ihre Haare fallen ihr "in gelockten Kaskaden über die Schultern". Langdon starrt sie über einen Fluss hinweg an, "dessen schäumende Fluten rot waren von Blut". Manchmal ist Browns Sprache geradezu platt: "Ich ersteige die letzten Stufen", schreibt er. Und fügt seinem Helden "sengend heißen Schmerz" zu.
Und trotzdem: King tut seinem Kollegen unrecht. "Inferno" jedenfalls ist - dem Kitsch an einigen Stellen zum Trotz - ein spannender Thriller. Auch wenn man früh ahnt, worum es geht, versteht der Autor es immer wieder, Verwirrung zu stiften. Wer sind wirklich die Guten, wer die Bösen? Ein ausgeklügelter Plot. Viele ungeahnte Wendungen. Vielleicht wird Dan Brown mit seinem Thriller keinen Literaturpreis gewinnen. Aber viele Leser. Und das zu recht.
Wer in das Buch reinschnuppern will, kann das hier tun.