Seit dem Welterfolg "Deutschstunde" im Jahre 1968 gehört Siegfried Lenz zu den großen Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur. Nun wird der aus Ostpreußen stammende und in Hamburg lebende Autor 80 Jahre alt. Doch der Festtag wird überschattet vom Tod seiner Frau Liselotte Anfang Februar - 57 Jahre waren beide verheiratet.
Seine Freunde wollen ihren "Siggi" trotzdem ehren und feiern. Sie schätzen seine Liebenswürdigkeit, seine moralische Integrität und natürlich sein literarisches Schaffen. "Siegfried Lenz - er begann früher zu schreiben als ich - ist ein wunderbarer Weggenosse seit meinen literarischen Anfängen bis in unsere alten Tage hinein", so Günther Grass (78). Der Nobelpreisträger nennt Lenz einen Kollegen, "dessen Werk ich mit Respekt und Bewunderung sehe, so unterschiedlich wir auch sind". Grass erinnert auch dankbar an das politische Engagement von Siegfried Lenz für die Ostpolitik Willy Brandts und gemeinsame Wahlkämpfe für die SPD in den 60er und 70er Jahren. "In Sachen soziale Demokratie ist er ein verlässlicher Mitstreiter gewesen."
Traumatisches Erinnerungsgepäck
Um das Werk zu verstehen, ist bei Lenz ein Blick auf die Biografie noch wichtiger als bei anderen Autoren. "Traumatisches Erinnerungsgepäck" begleitet ihn aus Kindheit und Kriegsjugend. Am 17. März 1926 wird Lenz in der ostpreußischen Kleinstadt Lyck, der "Perle Masurens", als Sohn eines Zollbeamten geboren. Die Ehe der Eltern scheitert, der Junge wächst bei der Großmutter auf. Über seinen Vater sagt er: "Ich hatte gar keine Beziehung zu ihm." Als Junge bricht Lenz im Eis ein und ertrinkt fast im Lycker See. Der "Pimpf" Siegfried ist glühend bei der Sache, steht Spalier, wenn es NS-Größen nach Lyck verschlägt. Doch die Verführungen des NS-Regimes werden mit dem Kriegseinsatz seit 1944 auf dem Panzerkreuzer "Admiral Scheer" durch die grausame Wirklichkeit entlarvt. In den letzten Kriegsmonaten wird Lenz nach Dänemark versetzt.
Wenige Tage vor Kriegsende desertiert Lenz, nachdem jemand liquidiert worden war: "Sie brauchten einen Toten, um uns an ihre Macht zu erinnern." Kriegsgefangenschaft, ein mit Schwarzhandel finanziertes Lehrerstudium und Journalismus folgten, ehe Lenz nach seinem erfolgreichen Debütroman "Es waren Habichte in der Luft" (1951) sein Brot als freier Schriftsteller verdiente. Anfangs ließ sich Lenz stark beeinflussen von Hemingway, Faulkner und den Existenzialisten Sartre und Camus.
Extreme Situationen, Auflehnung, Flucht, Freundschaft und Verrat gehören zu Lenz' Themen. "Die Welt zu entblößen, und zwar so, dass niemand sich in ihr unschuldig nennen kann", umriss Lenz in einem Essay seinen Anspruch an die Literatur.
Die berühmte Deutschstunde
In seinen beiden besten Romanen "Deutschstunde" (1968) und "Heimatmuseum" (1977) geht es um Vergangenheitsbewältigung. Die in zahlreiche Sprache übersetzte und 2,25 Millionen Mal verkaufte "Deutschstunde" macht das Verhältnis von Macht und Kunst zum Thema am Beispiel des Malverbots für den Maler Nansen, Vorbild war Emil Nolde. Es geht aber auch um einen pervertierten Pflichtbegriff und einen Vater-Sohn-Konflikt - auch symbolhaft für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration. "Heimatmuseum" setzt sich mit dem Verlust von Heimat auseinander - eine klare Absage an einen revanchistischen Umgang mit dem Begriff Heimat.
Die literarische Qualität des Werks haben Kritiker unterschiedlich bewertet. Einige Romane wurden vom Stil her als veraltet oder die Figuren als blutleer beschrieben. Hoch gelobt dagegen sind neben den internationalen Erfolgen "Deutschstunde" und "Heimatmuseum" die ebenfalls verfilmte Erzählung "Ein Kriegsende" über einen Befehlsnotstand auf einem Minensucher und die zahlreichen, auch sehr humorvollen Erzählbände, von denen "So zärtlich war Suleyken" (1955) der bekannteste sein dürfte.
Für den Verlag ein Glücksfall
In seinen Literaturkanon hat denn auch Marcel Reich-Ranicki mehrere Erzählungen von Lenz aufgenommen. "In der Tat sind das Stärkste, was er geschrieben hat, die Kurzstrecken, auch in der "Deutschstunde" gibt es fabelhafte Erzähl-Passagen", sagt Reich- Ranicki, der Lenz seit 1957 kennt und mit ihm befreundet ist.
Seit seinen schriftstellerischen Anfängen ist Lenz dem Hamburger Verlag Hoffmann und Campe treu geblieben. "Als Verleger wünscht man sich, einen Autor von seinem ersten bis zu seinem letzten Buch zu betreuen", sagt Programmchef Günter Berg. Siegfried Lenz sei für den Verlag "ein Glücksfall". Inzwischen liegt eine 20-bändige Werkausgabe vor. 14 Romane, etwa 150 Erzählungen, mehrere Theaterstücke ("Zeit der Schuldlosen"), Hörspiele und Essays umfasst das Oeuvre. Zum 80. Geburtstag hat der Verlag zwei Publikationen herausgebracht. Erstmals sind in dem etwa 1500 Seiten dicken Band "Die Erzählungen" alle Lenz-Geschichten zusammen gedruckt. Und in "Selbstversetzung" hat Berg verstreute Texte von Lenz über sein Leben und sein Selbstverständnis als Autor zusammengestellt.