SKANDAL-AUTORIN Verbotene Liebe

Sie schreibt über Drogen, Gewalt und Sex mit Ausländern. Obwohl der Roman von Wei Hui in China verbrannt wurde, provozieren sie und andere junge Frauen weiterhin das prüde Peking.

Chinas kommunistische Führer sahen rot. Am Ende befahlen sie die Vernichtung des Deutschen. Sein Verbrechen war die Liebe. Er hatte Coco verführt, eine junge Frau in Shanghai, die hinterher öffentlich bekannte: »Er war wie ein mitleidloses Tier, wie ein Soldat, der durch die Linie der Feinde bricht. Frauen lieben es, einen Faschisten im Bett zu haben, seine Stiefel im Gesicht. Mein deutscher Liebhaber hat mir mehr Ekstase verschafft als alle anderen Männer zuvor.« Sie meinte chinesische.

Neuer Roman »Shanghai Baby«

Das schmerzte weit unter der Gürtellinie der greisen Machthaber. Sie herrschen über eine Nation, die erst vor 56 Jahren das Joch ausländischer Besatzer abgeschüttelt hat und deren offiziell verordnete Prüderie so weit geht, dass im Fernsehen keine Anti-Aids-Spots gesendet werden dürfen, weil Kondome die sozialistische Moral gefährden. In diesem Fall machten schon die Tatorte der Liebe das Ausmaß westlicher Dekadenz sichtbar: Coco und ihr Lover trieben es auf Klos, unter Bäumen und während des Telefonierens. Der Deutsche hieß Mark, kam aus Berlin, arbeitete in Shanghai und ist ? nur eine Figur aus »Shanghai Baby«, dem Roman der Autorin Wei Hui, der am 12. September in Deutschland erscheint.

Erst Bestseller, dann von den Behörden verboten

In China verkaufte sich das Buch in sechs Monaten 130 000-mal, ehe es die Behörden verboten. Sie geißelten Wei Hui als »liederliche Sklavin ausländischer Kultur« und schlossen den Verlag »Frühlingswind« für acht Monate, weil zu viel frischer Wind die »soziale Stabilität« gefährde. Sie sperrten den tausend Verlagsangestellten das Gehalt, getreu dem urchinesischen Prinzip der Sippenhaft. Dann ließen sie 40 000 Exemplare verbrennen. Mark, die Designer-Anzüge tragende Sexmaschine, ging in Flammen auf, und mit ihm starben: Tiantian, der drogensüchtige und impotente Lebenspartner von Coco, dessen »Morgenküsse von der Geschmeidigkeit kleiner Fische im Wasser« sind. Und natürlich Coco selbst, das Alter ego der Skandal-Schriftstellerin Wei Hui.

»Bad Girl« mit sexuellen Fantasien

Die schreibt von Sex und Drogen, von Lebenslust und Existenzangst in der Wirtschaftswunderstadt Shanghai so frei, als lebte sie in New York und nicht in einer Diktatur. Ihre Heldin Coco, übervoll mit sexuellen Fantasien, ist hin- und hergerissen zwischen ihrem impotenten chinesischen Freund und dem deutschen Liebhaber. Sie beschreibt zeilenlang ihre Klitoris, »geschwollen wie eine Qualle«, und erklärt einen Song der Rock-Legende Jim Steinman zu ihrem Motto: »Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen überallhin.«

Der Westen liebt, was Pekings Führer hassen

Dabei sieht das Bad Girl Wei Hui mit ihrem runden Unschuldsgesicht und einer kreuzbraven Frisur eher aus wie eine Madonna. Gefährlich scheinen nur die langen Fingernägel. Ihr vier Quadratmeter großes Arbeitszimmer in einer Dachwohnung im Kolonialviertel gleicht einer Zelle: zwei Schreibtische, ein Computer, viele Bücher und an der Wand der Spruch: »Arbeit ist eine lausige Art, Geld zu verdienen.« Aber eine, die Wei Hui viel Geld bringt. Auf zwei Millionen Mark werden die Tantiemen geschätzt, die sie aus 24 Ländern erhält. In Japan verkaufte »Shanghai Baby« in einem Monat 250 000 Exemplare. Das Verbot hat das Buch zum internationalen Bestseller gemacht. Der Westen liebt, was Pekings Führer hassen.

»Das Leben ist wie eine chronische Krankheit«

Und Wei Hui liebt die Provokation. Als sie 26 war, verkaufte sie Männerunterhosen, auf die sie gedruckt hatte: »Ich bin bereit«. Auf ihrem Schminktisch stehen neben dem Armani-Parfüm für Männer ? Erinnerung an einen verflossenen Liebhaber ? zwei Dosen mit Schlaftabletten. Zu viel Druck, zu viele Sorgen. Sie fürchtet, dass die Regierung sie eines Tages aus China aussperrt. »Mir fehlt ein Boyfriend«, sagt sie augenrollend. »Je höher man steigt, desto kälter wird die Luft. Ich weine oft.« Dann rettet sie sich ins Schreiben, es ist für die 28-Jährige, die ihre Leser mit »der Wahrheit von Gewalt, Eleganz, Pornografie, Macht und Tod« schockieren will, Schwert und Schutzschild zugleich. »Das Leben ist wie eine chronische Krankheit, und eine interessante Beschäftigung zu finden ist wie eine Langzeitkur«, sagt sie.

Wohlstandskinder - immer auf der Suche nach Spaß

Ihre Mutter, die noch kleiner ist als die schon zierliche Tochter, kocht Huhn mit Bohnen und räumt Dutzende CDs vom Wohnzimmerboden ins Regal. Sie zog zur Tochter, als der Staat Wei Hui, deren Vater ein hoher Offizier der Volksbefreiungsarmee war, zur Vaterlandsverräterin erklärte. Sie versucht nach Kräften, auf das berühmte Töchterlein aufzupassen. Manchmal aber bricht Wei Hui aus. Mit einem ausländischen Freund heuerte sie eine Prostituierte an: »Ich küsste ihre Brüste, und ich erklärte ihr, dass sie immer Kondome benutzen muss.« Oder sie sitzt mit ihrer Freundin Wu in Shanghais bestem Jazz-Schuppen, dem »Cotton Club«, spielt verträumt mit Wus Haaren und flüstert Männern ins Ohr, wer von den Musikern gerade mit wem schläft.

Dann raucht Wei Hui eine Haschzigarette. Und wird zu einem der »Xinxin Renlei«, einem der Neu-Neu-Menschen, die sie in ihrem Buch als Bande von Wohlstandskindern beschreibt, immer auf der Suche nach Spaß. Dann ist sie eins mit ihrer Romanfigur Coco, die erklärt: »Sobald ich morgens die Augen aufschlage, möchte ich etwas Aufsehenerregendes tun. Die Vorstellung, eines Tages wie ein Feuerwerk mit lautem Getöse in den Himmel über der Stadt aufzusteigen, ist ein Grund weiterzuleben.«

Chronistinnen der sexuellen Revolution

Das Getöse war gewaltig, im ganzen Land. Seit dem Verbot kursieren nach Schätzungen von Lektoren rund drei Millionen Raubkopien. Und Schreiberinnen mit feuchten Fantasien gibt es nun auch in Peking, Kanton und Chengdu.

Die jungen Frauen sind Chronistinnen der sexuellen Revolution in Chinas Städten, »Beauty-Writers« tituliert sie die Literaturkritik. Wang Shuo, einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Literaten im Reich der Mitte, sagt: »Sie schreiben mit dem Körper, nicht mit dem Hirn.«

Konkurrentinnen mit der Energie eines Atomkraftwerks

Liu Zhen, 31, eine Dame, die auch am Tag Abendkleider trägt, hat ein wunderbares Buch über lesbische Liebe geschrieben, das in China nicht erscheinen darf. Ihre Novellen und Kurzgeschichten sind voll mit morbiden, poetischen Traumfantasien. Wei Huis schärfste Konkurrentin Mianmian, 31, ist eine Exzentrikerin mit der Energie eines Atomkraftwerks. Ihre Kurzgeschichten-Sammlung »Lalala« erzählt von Liebesdramen, Drogenabhängigkeit und Selbstmordversuchen und erschien in Deutschland in einer Auflage von 20 000 Exemplaren (Kiepenheuer & Witsch, 17, 90 Mark). Im Internet bekriegen sich die früheren Freundinnen und ihre Anhänger. Sie werfen sich gegenseitig vor, beim anderen Ideen zu klauen und mit Lektoren geschlafen zu haben, um das eigene Buch voranzubringen.

Frauen von heute sind besser, als die vor zehn Jahren

Die Beauty-Schriftstellerinnen brechen mit chinesischer Tradition, indem sie das Leben des Einzelnen radikal in den Vordergrund stellen. In einem Land, in dem die meisten Frauen das Wort »Orgasmus« nicht kennen, sind sie Speerspitze der sexuellen Revolution. Als vor 30 Jahren im Westen Hippies Liebe statt Krieg machen wollten, inszenierte Mao Tse-tung in China gerade die Kulturrevolution. Aufgepeitschte Massen stellten Frauen, die hohe Absätze trugen, an den Pranger und bespuckten sie. Der Staat verordnete kurze Haare und Mao-Anzüge. In »Shanghai Baby« schreibt Wei Hui: »Die Frauen von heute haben mehr Freiheit als die vor 50 Jahren, sehen besser aus als die vor 30 Jahren und haben bessere Orgasmen als die vor zehn Jahren.«

Von Matthias Schepp