Über München strahlt die Sonne und auf der Bühne springt Mark Forster in Deutschlandjacke auf und ab. Er singt "Egal was kommt, es wird gut, sowieso", die Menge jubelt. Nur für die Frau mit der Blumenkette in schwarz-rot-gold ist nicht alles gut. Sie steht vor dem Geländer, das ihr den Weg zur Zone A, dem Bereich direkt vor die Bühne versperrt und schnauzt den Security-Mann an: "Ich verstehe das Konzept nicht. Ich habe eine Karte für diesen Bereich, aber komme jetzt nicht rein. Was soll das?"
Dabei sollte das Konzept für das UEFA Fan Fest doch ganz simpel sein. Zwei Tage bevor 24 Nationen um den silbernen EM-Pokal kämpfen, kommen Fußballfans und Feiervolk zusammen und stimmen sich gemeinsam auf einen unvergesslichen Sommer ein. Also: DFB-Trikots rauskramen, Sonnenbrille auf, Getränke kaltstellen und dann die Nagelsmänner zum Erfolg schreien. EM-Finale als Minimalziel. Oder? Wie steht es um die Schland-Euphorie so kurz vor dem Start?
Wenn man die Frage Zo Last, 49, stellt, dann lächelt sie müde und zeigt auf ihr Englandflaggen-Tattoo am linken Unterarm. Fünf Tage hat sich die Erzieherin freigenommen, um am Spielort München als EM-Volunteer zu helfen. Orientierungslosen Stadiongängern den Weg zu ihren Plätzen weisen, aufpassen, dass niemand von seinen Sitzen auf den Rasen rennt – was genau ihr Job in der Arena sein wird, weiß die Britin noch nicht. Nur bei einer Sache ist Last sich sicher: "England holt den Pokal. 100 Prozent, vertraue mir."
EM-Turnierdirektor Philipp Lahm: "Fußball und Musik bringen Menschen zusammen"
Last hat Glück, dass aus den Boxen die Stimme von Mark Forster gerade so laut dröhnt, dass niemand ihren EM-Tipp hören kann. Denn die Sympathien sind an diesem Abend klar verteilt. Zwischen den zahlreichen Tourshirts von Ed Sheeran sind sie alle da: Müller, Kroos, Neuer – die DFB-Trikots von denen, die zu EM-Helden werden wollen. Vor allem das pinke Auswärtsdress ist auf der Theresienwiese unter den mehr als 60.000 Fans beliebt.

Tobi Biegger fällt in der Menschenmasse durch das übergroße FC Bayern-Logo an seinem Rollstuhl auf. Was er der DFB-Elf in diesem Sommer zutraut? "Halbfinale ist definitiv drin", sagt Biegger. Beim Vorrundenspiel Deutschland gegen Ungarn in Stuttgart wird er im Stadion sein. Ihm ist wichtig, dass die Plätze barrierefrei zu erreichen sind. In München und Stuttgart gehe das gut, aber in Dortmund und Leipzig soll es mühsam sein, erzählt er. Nancy Edlinger, mit der er heute zusammen hier ist, sagt, dass sie schon direkt am Einlass zum Fan Fest mit ihrem Rollstuhl stecken geblieben sei. Das nerve, aber komme bei Public Viewing-Veranstaltungen leider regelmäßig vor.
Immer wieder werden dieser Tagen Parallelen zur Heim-WM 2006 gezogen, dem Sommermärchen gegen alle Wahrscheinlichkeit. Deutschland hatte unter dem neuen Bundestrainer Jürgen Klinsmann miserable Testspiele hingelegt, das Team war noch in der Findungsphase und die Erwartungshaltung im Land erdrückend groß. Es brauchte strahlenden Sonnenschein und natürlich Siege des DFB-Teams, damit sich eine Nation vor Leinwänden freudetrunken in den Armen lag. Die Erfolgsformel von damals ist schwer zu kopieren. Beim UEFA Fan Fest haben sie mit Phillip Lahm jemanden auf die Bühne geholt, der weiß, wie man Fußball-Freudentaumel auslöst. 2006 hat der Ex-Nationalspieler das erster Turniertor erzielt. Zwischen Nelly Furtado und Ed Sheeran ist sein kurzer Auftritt. Lahm, Turnierdirektor der EM 2024, sagt, dass er heute am Marienplatz an feiernden Schotten vorbeigelaufen sei und auf vier Wochen Party hoffe. "Fußball und Musik bringen Menschen zusammen. Genau das stärkt unsere Zivilgesellschaft und unsere Demokratie", sagt Lahm.
Alena Wunderlich und Lea Kemp, beide 21, waren noch nicht eingeschult, als Lahm und Co. für das Sommermärchen sorgten. Dieses Jahr wollen sie den EM-Hype mitnehmen und in Ingolstadt am Donaustrand zum Public Viewing gehen. Trikots und Anglerhut haben die beiden Freundinnen schon. Jetzt erwarten sie von ihrem Lieblingsspieler Thomas Müller, dass er einen mindestens genauso guten Auftritt hinlegt wie eben Nelly Furtado auf der Bühne. "Auf Müller ist immer Verlass, der liefert ab", sagt Kemp und ihre Freundin nickt zustimmend.

Der offizielle Slogan der EM 2024 lautet: "United by Football. Vereint im Herzen Europas.” Ein Motto, das nie verkehrt ist. Zum Fan Fest, sind Gäste angereist, die am Freitag beim Eröffnungsspiel für 90 Minuten zu Kontrahenten werden. Zusammen mit seinen vier Freunden ist Ryan in der bayerischen Landeshauptstadt, am Akzent und den Trikots ist die schottische Männergruppe eindeutig zu identifizieren. Sie müssen überlegen, wann ihr Land zuletzt für eine EM-Endrunde qualifiziert war. "Keine Ahnung, 1996, oder? Ich war jedenfalls noch nicht auf der Welt", sagt Ryan. Ist aber auch egal. Am Freitag zählt es, er tippt auf ein 2:1 gegen Deutschland. Das wollen sie mit reichlich German Beer in der Innenstadt feiern und dann selbstbewusst in das erste EM-Achtelfinale mit schottischer Beteiligung marschieren. Und wer weiß, vielleicht geht ja auch mehr.
Fußball ist für alle da – eigentlich
Auch das ist EM, wenn kleine Fußballnationen auf einmal groß träumen. Wenn Menschen sich und den Sport feiern. Egal ob Eventfan, Ultra oder Fußballopa, völlig egal, Fußball ist für alle da.
Beim Fan Fest ist das etwas anders. Hier gibt es Außenstehende. Die Tickets für mehr als sechs Stunden Livemusik gingen zunächst für den Einheitspreis von 111,65 Euro in den Vorverkauf. Erst als der Stadtrat die Preispolitik des Veranstalters FKP Scorpio kritisierte und die Ticket-Nachfrage gering war, gab es deutlich günstigere Karten. Doch auch das kann sich nicht jeder leisten, weshalb sich rund um die blickdichten Bauzäune an der Theresienwiese mehrere hundert Menschen versammeln. Mitgebracht haben sie Campingstühle, Picknickdecken und manche sogar Ferngläser. Janina und Rosa haben sich auf den Stufen der Bavaria-Statue verabredet. Ihre EM-Euphorie auf einer Skala 1-10? "Eine 3, wenn überhaupt", sagt Janina. Die beiden ehemaligen WG-Mitbewohnerinnen wollen mal schauen, ob es sie noch mitreißt in den nächsten Wochen.
Wo Menschen ausgelassen Spaß haben wollen, braucht es diejenigen, die aufpassen, dass es beim Spaß für alle bleibt. Polizeikräfte, Security und Rettungssanitäter sind rund um das Konzertgelände im Einsatz. Zu den mehr als 130 Sanitätern in knallorange gehört an diesem Abend auch Lara Besch mit ihrer Ortsgruppe aus Augsburg. Als Ed Sheeran in der Abenddämmerung auf die Bühne steigt, geht ihre Schicht schon fast acht Stunden. Bisher sei nicht viel los gewesen. "Vielleicht mal ein Pflaster verteilen, das war’s", sagt Besch. Sie hofft, dass es bei den anstehenden Public Viewing-Events genau so ruhig sein wird. Wenn Deutschland spielt, möchte sie nicht ehrenamtlich im Einsatz sein. "Ich will dann in der Menge stehen und mitfeiern."
Der Abend endet mit einem Feuerwerk, lautem Getöse und Ed Sheeran, der netterweise sagt, dass er sich ein Finale Deutschland gegen England wünscht. Wobei sein England-Trikot keine Zweifel daran lässt, wer dieses Endspiel dann gewinnen soll. Es ist der Moment, um nochmal zu Zo Last zu gehen, der Erzieherin mit England-Tattoo. Sie sagt: "Ed Sheeran ist nicht meine Musik, aber er versteht etwas von Fußball. Wir gewinnen den Pokal." Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass es anders kommt, feiern wird sie trotzdem.