Berliner Hufeisensiedlung Wir sind Weltkulturerbe

Von Anne Meyer
Wie lebt es sich im Weltkulturerbe? Der Besuch in der frisch geadelten Berliner Hufeisensiedlung zeigt: Es lässt sich ganz gut aushalten. Obwohl - oder gerade weil - hinter den Fassaden alles ein wenig anders aussieht als vom Architekten gedacht.

Während Dresden Gefahr läuft, seinen Weltkulturerbe-Status wegen der geplanten Waldschlösschenbrücke zu verlieren, hat die Hauptstadt einen begehrten Titel mehr vorzuweisen. Gleich sechs Berliner Wohnsiedlungen der zwanziger und dreißiger Jahre zeichnete die Unesco aus - und huldigte damit auch dem Mann, der seinerzeit die revolutionären Pläne für einen Großteil der Siedlungen entworfen hatte. Der Architekt Bruno Taut habe mit seinem Credo von "Licht, Luft und Sonne" einen neuen Wohnstandard gesetzt, rühmte die Unesco in ihrer Erklärung.

Tatsächlich waren Tauts Siedlungen ein deutlicher Fortschritt gegenüber den düsteren und feuchten Hinterhöfen der Altbauten, in denen es meist weder Bad noch eine richtige Toilette gab. Die Auszeichnung wäre wohl eine Genugtuung für den Architekten, der 10.000 Wohnungen allein in Berlin baute. Zu seinen Lebzeiten musste er wegen seiner Vorliebe für kräftige Farben einigen Spott ertragen. In Magdeburg, wo er Stadtbaurat war, kursierte der Spruch: "Schaut, schaut, was da wird gebaut, ist denn keiner, der sich's traut und Taut den Pinsel klaut?"

Die Hufeisensiedlung am südlichen Rand der Hauptstadt war als einfache Unterkunft für einfache Menschen geplant. Heute, 80 Jahre später, wachen die Bewohner plötzlich in prominenten Weltkulturerbe-Schlafzimmern auf und frühstücken in Weltkulturerbe-Küchen. stern.de war vor Ort und hat einen Blick in die Zimmer und die Herzen der Hufeisensiedler geworfen.

Das Urgestein: Seit 60 Jahren in der Hufeisensiedlung

Als Ursula Schwenghagen im Jahr 1948 ihr Reihenhaus in der Hufeisensiedlung bezog, kam es ihr merkwürdig vor: "An der Wand war keine Tapete; die Farbe war einfach auf den Putz gestrichen - und alles so bunt!" Sie konnte sich mit dem gut gemeinten Farbenfeuerwerk einfach nicht anfreunden. Also traute sich die Hausfrau, Taut den Pinsel nachträglich zu klauen. Sie tapezierte die Wände, hängte Spitzengardinen ins Fenster und ersetzte die schlichten Möbel durch rustikale Schrankwände. Die klaren Formen der Moderne zogen aus, eine barocke Gemütlichkeit hielt Einzug.

Die heute 83-jährige Dame konnte sich glücklich schätzen: In Berlin waren Wohnungen nach dem Krieg knapp, und sie war ein paar Jahre zuvor mit nur einem Koffer in der Hand aus Pommern geflohen. Dass sie und ihr Mann, ein Stahlarbeiter, in der Hufeisensiedlung in Berlin-Britz wohnen konnten, für damals 70 DM im Monat, grenzte an ein Wunder.

Vor zwei Jahren ist Ursula Schwenghagens Mann gestorben. Und auch sie selbst möchte an dem Ort sterben, an dem sie fast ihr ganzes Leben gewohnt hat. Die Briefe der Wohnungsbaugesellschaft, die ihr bei der Suche nach einer "altersgerechten" Wohnung ohne Treppen behilflich sein will, landen ungelesen im Altpapier. Die Gesellschaft will den Auszug der Reihenhausbewohner, um die Immobilien nach und nach verkaufen zu können. "Die sollen noch warten, bis ich sterbe, und dann können sie mit dem Haus machen, was sie wollen."

Ursula und Dieter Bading zogen 1965 ins Hufeisen. Mutter, Bruder und Onkel von Ursula Bading leben gleich um die Ecke. Als Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee und sein Stab nach der Erklärung der Unesco am Mittwoch stolz durch das Hufeisen schritten, sahen die Badings von ihrem Balkon aus zu. Den Teich in der Mitte des Hufeisens, der gar kein Teich mehr ist, weil Gräser ihn komplett überwuchern, können sie dagegen von ihrem Balkon aus nicht mehr sehen. Die Grünanlage ist total verwildert. "Da geht keiner mehr hin, nur ein Reiher kommt manchmal."

Dieter Bading nimmt vor seinem beleuchteten Eichenschrank im Wohnzimmer Platz. "Es hat sich viel verändert", sagt er. Früher habe es Hauswarte gegeben, die sich um die Häuser kümmerten, in denen praktisch nur Familien wohnten. Man kannte sich. Heute führe ein Türke die Bäckerei und das Restaurant ein Kroate, "und im Zeitungsladen", sagt Dieter Bading, und da muss er selber lachen, "da ist ein Ossi."

Der Ossi: Seit vier Jahren in der Hufeisensiedlung

Der "Ossi" im Zeitungsladen heißt Peter Schümann und lebt seit vier Jahren in der Siedlung. Er ist 29, trägt einen eigenwilligen Kinnbart und ein mit Sinnsprüchen bedrucktes T-Shirt. Jeden Tag arbeitet er von 6 bis 18 Uhr im Kiosk und findet die Siedlung "absolut abgefahren." Für ihn verkörpert sie ein Stück altes Westberlin, eine "Insel der Seligen."

Die "Dorfbevölkerung" wie er seine Kundschaft nennt, kommt gerade in Gestalt von sechs Schülerinnen in seinen Laden, um ihr Taschengeld für Panini-Sammelbilder auszugeben. "Grüß mal zuhause", sagt er zu einem Mädchen, nachdem er ihr mit einer Schere das Wassereis aufgeschnitten hat.

Wie wichtig den Hufeisensiedlern ihr Berliner Idyll ist, wurde Schümann vor der Abstimmung zum Flughafen Tempelhof klar. Die meisten waren für den Erhalt, "die waren richtig geladen." Brave und politisch sonst uninteressierte Frauen hätten sich vor dem Laden unvermittelt angeschrieen. "Nachdem die Volksabstimmung gescheitert war, waren sie richtig verletzt", sagt Schümann. Aber nun, da sie plötzlich im Weltkulturerbe wohnen, "fühlen sie sich gebauchpinselt." Ihm selbst ist der Titel egal. "Dieses Konservieren finde ich eigenartig. Die Siedlung lebt, da ist es doch ganz normal, dass sich ihr Aussehen mit der Zeit verändert", sagt er und fasst sich nachdenklich an den Bart. "Aber wen wundert das in einer Stadt, die sogar alte Schlösser wieder aufbaut."

Der Pragmatische: Seit 45 Jahren in der Hufeisensiedlung

Gegenüber dem Reihenhaus von Ursula Schwenghagen steht Gerd Schmiedecke in seinem Vorgarten. Er weiß nicht, warum er sich freuen sollte. Eher schon wäre er glücklich, wenn er endlich dichte Fenster hätte. "Zu lüften brauchst du bei uns nicht, so undicht sind die Fenster," schimpft er. Das mit den Fenstern beschäftigt viele Siedlungsbewohner. Wenn man bedenkt, was Angela Merkel einst auf die Frage antwortete, was ihr an Deutschland gefalle, wundert das nicht: Kein anderes Land könne so dichte und so schöne Fenster bauen, sagte die Bundeskanzlerin. Gerd Schmiedecke hätte auch gerne ordentliche Fenster. Doch der Denkmalschutz will es, dass die alten Holzfenster der Hufeisensieldung nur durch neue aus demselben Material ersetzt werden dürfen; und die sind teuer. Aluminiumfenster oder eine Wärmeisolierung sind nicht erlaubt - das ist der Preis für das Leben in einer Weltkulturerbe-Stätte.

Licht, Luft und Sonne wollte Bruno Taut für die Menschen. Doch was wollen die Menschen? Noch einmal wandert der Blick die Fassade des Weltkulturerbes hinauf. als die Wolkendecke langsam aufbricht. Licht und Sonne, sie wären jetzt da. Doch sie werden in fast jedem Fenster von Spitzengardinen abgefangen. Und was noch durchkommt, schluckt die dunkle Schrankwand in Eiche rustikal. Aber immerhin - ein wenig Luft weht durch die undichten Fenster.

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