Zu den amüsanteren Beobachtungen im Alltag zählen die cumexartigen Rechenspiele, mit denen meine Tochter in wilden Zahlenketten versucht, mich darüber hinwegzutäuschen, dass sie ihre Mama vielleiiiiiicht doch die eine Umdrehung um den Mond und zurück lieber hat als mich. Ich glaube auch, dass sie die Bilder für ihre Mama akkurater ausmalt als die, die für mich bestimmt sind. Zugeben würde sie das allerdings nie.
Muttertag. Wo fange ich an. Okay, wir können uns natürlich jetzt daran aufhängen, dass der heutige Tag eine Institution ist, die aus einer Zeit zu stammen scheint, in der "zur Beruhigung: Frauentonikum" gereicht wurde und der Alte befahl: "Schatz, der Chef kommt zu Besuch, hol Chantré!" Angestaubt, piefig und in seiner alljährlichen Kurzlebigkeit geradezu provokant. Mütter – eine teuflische Erfindung der Fleuropmafia. Vergessen wir das kurz. Wenig wird, hat man die Cocktailpartythemen Weltkrieg und Killervirus erstmal durch, gesellschaftlich leidenschaftlicher diskutiert als die moderne Interpretation der Mutterrolle.
Gerne entlang der prägenden Figur Annalena Baerbock, die es beruflich gerade mit Männern zu tun hat, deren Frauenbild so gänzlich anders ist. Etwas ungerner entlang der Person Anne Spiegel, die ausgerechnet als Familienministerin mit der Job-Kind-Mann-Jonglage überfordert schien.
Noch gar nicht so lange her, da hörten wir Deutschen auf unsere Bundeskanzlerin, der das sagenhaft unpassende Prädikat "Mutti" anhaftete. Gleichwohl: Dass sie es mit ihrer Art geschafft hatte, den in seiner Kindheit emotional unterernährten Wladimir Putin zu kontrollieren, wird zur Unterfütterung dieses Bildes gerne erzählt.
Die Vorstellung, wie die führende Frau zu sein hat, verändert sich. Im Fernsehen, da oszillierte die Mutterrolle zwischen der eierbratenden Glucke Mutter Beimer und der dauerbetroffenen Vera Drombusch. Mehr als eine kinderkümmernde Co-Existenz am Randes des Mannes war kaum drin. Und dann kam Uschi Glas: "Anna Maria – eine Frau geht ihren Weg". Sinnlich, schön, aber zur Not selber mit den zarten Händen am Steuer vom Kieslaster. Ist das nicht das moderne Deutschland, das wir alle wollen? Die Gewissheit, in der ersten Reihe bestehen zu können – und gleichzeitig nicht einen so großen Schatten zu werfen, dass der Nachwuchs darin verdorrt.
Zwischen mütterlicher Fürsorge und Geschäftsfraudasein
Dass dieses Konzept so neu nicht mehr ist, daran erinnert mich allein meine eigene Mutter. Anfang der Achtziger (bis Corona sie von der selbstverordneten Präsenzpflicht endlich entbunden hat) war sie Geschäftsführerin eines mittelständischen Betriebes. Mit zwei kleinen Kindern und all den anderen Anforderungen, die eine Frau manchmal dazu treiben, alles hinwerfen und mit Sky DuMont durchbrennen zu wollen. Sie hat das alles erstaunlich gut gemanagt. Dazu dieser sagenhafte Look, irgendwo zwischen Schloss Guldenburg und Yogurette-Reklame. Und auch, wenn es zur Wolfgang Rademann-Realität wegen ein bisschen zu viel echtem Leben nicht gereicht hat, so gelang die Balance aus mütterlicher Fürsorge und Geschäftsfraudasein doch erstaunlich gut. Klar, da waren Omma und Oppa. Und mein Vater wurde dann und wann auch erfolgreich animiert, sich zu beteiligen. Es war eine schöne Kindheit. Bis heute.
Klar, die ein oder andere charakterliche Auffälligkeit, okay, aber, das wird dir im Laufe des Lebens auch immer klarer: Unsere Eltern sind natürlich nicht die überlebensgroßen Figuren, für die wir sie damals gehalten haben. Im Grunde genommen sind sie wir – nur, dass sie lange Zeit auch noch uns an der Backe hatten. Es ist gut gelaufen. Wir haben uns immer geliebt gefühlt. Das ist nichts Banales. Es ist ja nicht so, dass am Ende eines Lebens auf uns ein Topf voll Gold wartet. Den Topf kriegen wir ganz am Anfang in die Hand, rennen los ins Leben – und können mit ein wenig Glück möglichst viel bis zum Ende rüber retten. Und wieviel drin ist in diesem Topf, das liegt zumeist an, naja: Mama.
Vermutlich sehen wir uns deshalb so oft. Ich unterhalte mich einfach wahnsinnig gerne mit ihr. Nichts, worüber wir nicht lachen könnten. Nichts, was wir in prechtartigen Expeditionen ins Seelenleben nicht bereits erörtert hätten. Wir haben einfach Freude aneinander. Es sei denn natürlich, ich tauche unrasiert auf. Und seitdem sie mir via WhatsApp nicht mehr nur diese Glückskartenstandards schickt, sondern regelrechte Boshaftigkeiten, hat das mit dem iPhone auch seinen Wert.
"Wenn ich manchmal frech bin, verträgst du dich mit mir"
Erst letztens schickte sie mir als Foto eine uralte Glückwunschkarte, die ich ihr zum Muttertag geschrieben und selbst designt hatte. Mit allerlei Malereien garniert, stand da in erstaunlich schöner Handschrift (die muss irgendwann zwischen iPhone 5 und 9 verschwunden sein): "Liebe liebe Mama, Du bist die allerbeste von allen Müttern. Manchmal träume ich, daß du böse bist. Doch Du bist nicht böse. Du schaust immer abends nach ob ich schlafe. Du gibst mir einen Kuß und ich weiß wie lieb du mich hast. Wenn ich manchmal frech bin, verträgst du dich mit mir. Wenn ich mir weh getan habe, tröstest du mich. Du schenkst mir viele Autos und auch so viele andere Sachen…" Jetzt kommt's: "…Hosen und Hemden. Schuhe, Strümpfe, Socken, Mützen, Schals, Pullover, Unterhosen, Unterhemden, Bücher und andere Sachen. Vielen Dank."
Gut, hintenraus wurde es eher so eine Art Modeblog. Aber in diesem Zettel steht alles drin, was so einen kleinen Menschen mit sechs so umgetrieben hat. Die Welt war einfach. Trotz Waldsterben, Tschernobyl und den grimmigen Männern, die in den Nachrichten etwas von Russland oder diesem finsteren Mann aus Teheran erzählten. Ein Kosmos, dessen äußere Grenzen verliefen, irgendwo zwischen Cornflakes und Dr. Snuggles. Was für ein Kraftakt eigentlich, die Kinder einzuhüllen in eine Luftpolsterfolie aus Liebe, um sie mit den Widrigkeiten des eigenen Lebens nicht weiter zu behelligen.
Eine Aufgabe, die heute noch viel anspruchsvoller sein dürfte als damals. Wie schirmt man ein Kind ab von den Nachrichten da draußen? Wäre schön, wenn es gut in der Schule wäre, aber viel wichtiger ist es, dieses Kind unabhängig zu machen von dieser alles mitreißenden Beurteilungslawine, die speziell im Internet schon stabilere Charaktere unter sich begraben hat. Meine Eltern haben mir immer das Gefühl gegeben, gut zu sein, wie ich bin. Liest sich so banal, aber wie viele kenne ich, die diese emotionale Erstimpfung nie erhalten haben: "Du bist in Ordnung."
Schlimmer. Nicht wenige mussten aufwachsen mit dem Gefühl, unzulänglich zu sein. Seelische Grausamkeit und Sadismus, auch das ist nicht allein den Vätern überlassen. Gelobt sei meine Hundewiesenmentalität. Nie musste ich irgendwem gerecht werden. Es war auch egal, was ich einmal machen würde. Hauptsache, man macht irgendwas. Jetzt sitze ich also hier und schreibe. Und irgendwer muss es lesen. Bedanken Sie sich also bei ihr. Oder besser: Besucht eure Mamas. Rächt euch persönlich für diese entsetzlichen Bilder, die sie euch bei WhatsApp schicken.