Die Einschläge kommen näher. Was man für gewöhnlich immer an den banalen Dingen merkt.
Vor meinem Fitnessstudio steht jetzt ein Schild, indem darauf hingewiesen wird, nur einzeln trainieren zu dürfen, die Hälfte aller Geräte ist wieder mit Tape angeklebt. Gut, dass ich die Hanteln, die ich mir im "Lockdown" im April für den Gegenwert von drei Kilo Hefe gekauft habe, noch nicht wieder verkauft habe. Ich werde sie zeitnah wieder brauchen.
Ein wenig peinlich ist es mir schon, mich an solchen Banalitäten wie abgesperrten Sportgeräten zu stoßen, aber der Mensch ist ein begabter Verdränger. Das Unwohlsein wird größer. Das Draußen unangenehmer.
Ich begreife, was für eine große Scheiße das alles ist
Rein möchte ich aber auch nicht so gerne. Geht wohl vielen so. In den Restaurants schmelzen die Reservierungen wie die Polkappen. Im Kindergarten fällt das Laternenfest aus. Mein Herz wird kurz schwer. Und es kommt mir vor, als begreife ich erst jetzt, was für eine große Scheiße das alles ist.
Im Eltern-Mailverteiler beschwert sich ein Vater bei den bedauernswerten Erzieherinnen über das Einknicken vor der Panikmache, "Corona ist vorbei, wenn WIR es wollen." Die Mail schließt mit einem YouTube-Link zu einer alternativen Expertenmeinung. Gute Besserung. Nicht nur die Einschläge rücken näher. Im Supermarkt möchte ich den Mann an der Kasse an das Abstandsgebot erinnern. Trotz Maske müsste ich gut zu verstehen sein, der Kerl ist bei mir fast huckepack.
Ich bin jetzt genauso passiv aggressiv wie die Eurowings-Stewardess, die gestern Morgen über den Lautsprecher das völlig enthemmte Menschenknäuel hörbar genervt fragte, "was in dieser Situation so schwer daran zu verstehen" sei, geordnet und mit Abstand auszusteigen. Wenn man sich nicht einmal mehr auf die professionell-freundliche Verlogenheit von Flugbegleiterinnen verlassen kann, scheint die Stunde der Wahrheit gekommen.

Kanzlerin Merkel und ihre düsteren Prophezeiungen
Derweil fungiert die Kanzlerin als Kassandra der Ministerpräsidentenkonferenz, deren unheilschwangere Voraussagen immer wieder geleakt werden. Markus Söder will "die Zügel anziehen". Es ist die Stunde des fränkischen Christian Grey, der wie kein Zweiter Kompetenz simuliert und die Geißelungssehnsucht der Mehrheit in unsicheren Zeiten vollauf zu bedienen scheint. Laschet hat zwar die besseren Zahlen, aber man hat sich schon im April darauf verständigt: Der kann es nicht.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Zwischenzeitlich 14.000 Neuinfektionen täglich. Das letzte Mal, dass man in Deutschland so entsetzt auf fünf Ziffern geblickt hat, muss bei der Postleitzahlenumstellung gewesen sein. Sogar der Gesundheitsminister hat es. Dabei steht doch dran, dass der der GESUNDHEITSminister ist.
Das Einzige, was man Angela Merkel nachsagen kann ist, dass sie bei ihrer Modellrechnung zu zögerlich war. 20.000 Neuinfektionen täglich zu Weihnachten – das schaffen wir doch früher! In ihrem Podcast betont sie wiederholt die Ernsthaftigkeit der Lage. Aus Klausuren dringen Begrifflichkeiten durch, die in ihrer biblischen Schwere nicht zu der nüchternen Wissenschaftlerin passen wollen. Unheil. Heimsuchung. Ich warte stündlich auf die apokalyptischen Reiter.
Teile ihrer Vorahnungen könnten die Öffentlichkeit verunsichern. Und draußen scheint die Sonne. Die Corona-App sendet ungerührt vor sich hin. Alles im grünen Bereich. Na, dann. Im Supermarkt fehlt schon wieder Klopapier. Nicht nur der R-, sondern auch der K-Wert steigt dramatisch an. Volkssport Stoßlüften. Wer jetzt Geld übrig hat, sollte in Firmen für Thermounterwäsche investieren. Die Daunenjacke als deutsches Symbol.
Im Netz demonstrieren die Pandämlichen in Berlin gegen die Corona-Auflagen und kommen sich vor wie Braveheart. Die meisten wünschen sich laut und deutlich, dass der Wasserwerfer die Pfeifen mal ordentlich beiseite kärchert. Wobei die sich zumindest draußen an der frischen Luft aufhalten. Und nicht in irgendwelchen Kellern. Was sind das eigentlich für Zeiten, wo sich ausgerechnet Besucher einer Fetischparty weigern Maske zu tragen? Brandsätze treffen das Robert Koch-Institut. Let's kill the Messenger.
Eigenverantwortung als letzter Strohhalm
In Kanada weigert sich eine Frau im Bus Maske zu tragen. Nach einer herablassenden Bemerkung spuckt sie jemandem ins Gesicht, woraufhin sie beim nächsten Halt aus dem Bus geschubst wird. Sie landet mit dem Gesicht auf dem Bordstein. Kanada ist das Land von Trudeau, die bessere Gesellschaft. Wenn die es schon nicht hinkriegen ...

Pandemie, so scheint es, kann gelingen, solange man sich nur ausreichend denunziert und anbrüllt. Trotz ist in unserer Gesellschaft die größte Kraft. Disziplinierungseifer und Sinnsuchaggressionen. Eigenverantwortung als letzter Strohhalm für überforderte Gesundheitsämter. Im Fernsehen heißt es, Stimmen forderten schärfere Maßnahmen. Diese Stimmen sind eigentlich immer Karl Lauterbach. Deutschland, sag zum Abschied leise Lockdown.
Es ist Herbst. Wir sind arm an neuen Mitteln, aber reich an Erkenntnissen. Wir wissen alles. Und haben nur keine Lust, danach zu leben. Und jetzt bleibt's lange dunkel. Ich möchte einen Gerhard Schröder, der mir Hagebutten durch die Bude schleppt. Gut, dass wenigstens das Internet zu Hause funktioniert. Frühjahr war alles besser.