Mittagspause. Zwei Kollegen laufen einen grauen Büro-Korridor in Richtung Cafeteria. Eben noch über ihre Quarterlife-Crisis geredet, geht es nun auf einmal um Kanye West. "Immer wenn ich meinen Laptop zwei Minuten aus den Augen verliere, ist er plötzlich da. Seit meinem 14 Lebensjahr ist Kanye mein Bildschirmschoner. Keine Ahnung warum." Verstehend nickend erwidert der andere: "Ich hatte meinen ersten großen Beziehungsstreit darüber, ob man Kanye noch hören sollte". Die große Frage: Warum hört und liebt man diesen Rapper 2022 noch?
"Jeen-Yuhs": Kanye West Biographie auf Netflix
Während der ersten Minuten der neuen Kanye West Doku-Serie "Jeen-Yuhs", drängt sich diese Frage immer mehr auf. In schnellen Sequenzen ziehen die Tiefpunkte einer Biografie über den Bildschirm, die viele Fans des Musikers gerne verdrängen. Da sieht man einen Mann, der am Steuer seines Wagens einschläft und fast tödlich verunglückt. Ein Rapper, der während der Verleihung der MTV-Awards auf die Bühne stürmt, der Preisträgerin Taylor Swift das Mikrofon entreißt und laut schreit: "Gratuliere, aber das beste Musikvideo hatte dieses Jahr Beyoncé". Und man sieht einen Musiker, der einen bei seinen Fans verhassten Präsidenten unterstützt, nur um kurz darauf seine eigene zum Scheitern verurteilte Präsidentschaftskandidatur zu verkünden.
Dann der Zeitsprung: Die Serie reist zurück in die 1990er Jahre. Kameramann Clarence Simmons Jr. begann damals auf gut Glück das Leben des jungen und hoch begabten Produzenten Kanye Omari West zu filmen. Dass er damit das Leben des wohl bekanntesten Musikers des 21. Jahrhunderts einfing, konnte er damals nicht gewusst haben.
Kanye (heute nur noch "Ye") arbeitet damals als Produzent für Jay-Z und rennt verzweifelt von Musik-Label zu Musik-Label, spielt den Chefs auf CD-Playern seine ersten unveröffentlichten Tracks vor und hofft auf einen Plattenvertrag. Das unzerbrechliche Selbstverständnis des Kanye West zeigt sich schon damals in Form einer herausnehmbaren Zahnspange. Kanye trägt sie immer bei sich und lässt sie zur Verwunderung anderer Rapper im Studio offen herumliegen, wenn er etwa Gangster-Rapper “Scarface” seine erste Erfolgs-Single "Jesus Walks" vorspielt. Neben Werbung für kieferorthopädische Behandlung gibt Jeen-Yuhs seinen Zuschauer:innen aber vor allem einen Einblick in intime Szenen eines jungen Künstlers, der seiner Mutter in einer kleinen Küche Chicagos seinen Erfolg verspricht.
Dieser Erfolg kam. Kanyes erste drei Sample-Beat lastigen Alben, die sogenannte College-Trilogie ("College Dropout", "Late Registration" und "Graduation") ließen den Rapper kometenhaft aufsteigen. Der Junge aus Chicago fand sich plötzlich auf Augenhöhe mit Musikern der ersten Riege wie Jay-Z, 50 Cent und Eminem wieder. Nach dem Tod seiner Mutter Donda West folgte mit "808&Heartbreak" ein Album ohne Rap-Strophen aber voller theatralischer herzzerreißender Balladen. Egal ob sein darauffolgender orchestraler Magnum-Opus "My Dark Twisted Fantasy" oder das experimentelle Meisterwerk "Yeezus" − Kanye West überbot sich kontinuierlich selbst. Doch seine frühere Erfolgsformel, sich stetig neu zu erfinden, scheint ihm heute zum Verhängnis zu werden.
Midlife-Crisis im Rampenlicht
2022 ist wenig übrig von dem Mann, der einst mit seiner Musik und Mode eine ganze Generation prägte. Es scheint, als sei der 44 Jahre alte Musiker in einer seit Jahren anhaltenden Midlife-Crisis gefangen. Frau und Kinder haben ihn verlassen, auf seinen streng-religiösen Gottesdiensten betet er nicht mehr und auch seine letzten Alben waren mehr Fragment oder unfertige Projekte in Überlange als musikalischer Zeitgeist.
Seit vergangenem Jahr lebt Ye zu allem Überfluss nun auch noch ohne festen Wohnsitz. "Häuser", so sagte er kürzlich in einem Interview, "sind wie Gefängnisse". Deshalb geistert der wohl einflussreichste Popstar des 21. Jahrhunderts seit Monaten in seinem Privatjet um die Welt. Unter einer schwarzen Maske versteckt, beobachtet er Basketballspiele, besucht Fashion-Shows und spaziert mit Bild-Reportern durch die Museen Berlins.

Das nicht genug, zeigt sich West nicht nur an vielen verschieden Orten auf der Welt, sondern begegnet einem auch mehrmals täglich auf Instagram. Dort postet der Rapper wirre Nachrichten, Screenshots und Chat-Verläufe. Mal geht es um seine Musik, ein anderes Mal um den Schnitt seiner neuen Netflix-Serie. In den meisten Fällen liefert er sich allerdings einen einseitigen öffentlichen Rosenkrieg mit Ex-Frau Kim Kardashian. Die Posts sind in der Regel nach wenigen Stunden wieder verschwunden. Verstehen tut das schon lange niemand mehr.
"Donda 2": Die Hoffnung stirbt zuletzt
Nun soll in dieser Woche ein neues Album erscheinen. Zumindest musikalisch könnte "Donda 2" viele seiner Fans milde stimmen. Schließlich lieferte Ye mit dem ersten Teil im vergangenen Sommer eines seiner spannendsten Projekte seit Jahren. Trotz einer Handvoll Verschiebungen und einer viel zu langen Promo-Phase war die Musikszene voll des Lobes. Neben klassischen HipHop-Tracks wie "Pure Souls" mit Roddy Ricch oder "Heaven and Hell", begeisterten vor allem die gefühlvollen Balladen mit Don Toliver und The Weeknd. Zum Alternative-Rock-Mix "Jail" (eine Kontroverse für sich) gesellten sich melodische Parts ("Believe What I Say"), die an den 2000er Kanye erinnern.
Fraglich ist nur, ob man "Donda 2" wirklich zu Ohren bekommt. In der vergangenen Woche kündigte der Rapper auf Instagram an, Spotify und Apple Music nicht weiter unterstützen zu wollen. Kanye bemängelte, die Streamingdienste würden Künstler:innen ausbeuten. Sein Album werde stattdessen auf einem 200 US-Dollar teuren Stem-Player veröffentlicht. Fraglich, wie viele seiner Fans diesen Schritt tatsächlich gehen werden.
Keiner mag ihn, alle kennen ihn
Während alte Weggefährten und Konkurrenten wie 50 Cent, Eminem und Jay-Z abseits des Rampenlichts ihren Karriereabend genießen, ringt Kanye West vor den Augen der Welt mit sich selbst. Auf die Frage, was ihn mit seinem alten Mentor Jay-Z verbindet, antwortete Kanye einmal: "Wir haben beide gekämpft und damit Erfolg gehabt. Mit dem Unterschied, dass man bei Jay-Z immer nur den Erfolg gesehen hat und bei mir den Kampf". 2022 scheint diese Aussage passender denn je. Überall wo der Name Kanye West fällt, hört man fast nur noch Kritik. Auch die Autoren dieses Textes tun dies unentwegt. Und dennoch haben sie sich am 22.02.2022 eine Notiz in ihren Kalender gesetzt, die sie an das Release von Ye´s neuem Album erinnert. Jay-Z, Eminem und 50-Cent habe sie bereits seit Jahren nicht mehr gehört. Kanyes Midlife-Crisis klingt spannender.
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