Um 17 Uhr steigt der Chef in Jogginghose und Kapuzenpullover aus seinem Mercedes. Tim Bendzko, 32 Jahre alt, rollt seinen Hartschalenkoffer über den Asphalt. Neben ihm trippelt seine französische Bulldogge. "Frido", ruft Bendzko, als der Hund an den Büschen schnüffelt. Bendzkos Miene erinnert an einen Schuljungen, der gezwungen wird, seine Großtante zu besuchen, aber lieber vorm Computer hängen und GTA 5 zocken würde. Kann sein, dass er keinen Bock hat, fotografiert zu werden. Kann auch sein, dass es am Sonntag liegt. Neun von zehn Konzerten an diesem Wochentag seien schwierig, sagt er. Er greift sich den Hund, der mal einen eigenen Instagram-Account hatte, und trägt ihn in die Mehrzweckhalle von Hannover. Auf Bendzkos Garderobentür steht: "Hereinspaziert, wenn's Fragen gibt". Gibt's aber nicht. Die Tür bleibt zu. Drei Stunden noch bis zum Konzert.
Vor sechs Jahren wurde Tim Bendzko mit dem Hit "Nur noch kurz die Welt retten" zum singenden Lockenkopf der Nation; inzwischen hat er drei Alben veröffentlicht, Musikpreise wie Bambi und Echo gewonnen. Er trat beim Bundesvision Song Contest an, später saß er dreimal in der Jury. Er war Juror bei "The Voice Kids". In der Bugwelle seines deutschen Singersongwriterpop flutete eine Reihe von jungenhaften Sängern mit weichem Timbre die Charts: Max Giesinger, Wincent Weiss, Johannes Oerding, Max Prosa, zuletzt Matthias Schweighöfer.
Menschen, Leben, tanzen, Welt
Das geht nun schon eine ganze Weile so. Doch Anfang April, kurz vor der Echo-Preisverleihung, persiflierte der Satiriker Jan Böhmermann als "Jim Pandzko" das durchschnittsdeutsche Hitliedchen – in die Charts werde "seelenlose Kommerzkacke" gespült, deren tiefschürfende Themen, immer wiederkehrend, folgende seien: Menschen, Leben, tanzen, Welt.
"Alles, was da kritisiert wurde, hat nichts mit mir zu tun", sagt Tim Bendzko. Er schreibt fast immer die Musik und Texte selbst. Und am 4. Juni ist er, quasi als Gegenbeweis, Gast der Talkshow "Schulz & Böhmermann".
Auch die Komikerin Carolin Kebekus hatte sich über "dünne blonde heulende Jungs in den Charts" beschwert – im März trat er bei ihr in der Show auf.
Bendzko schreibt vor allem Texte über Liebe, die vergeht, Steine, die im Weg liegen, und Winter, die nicht enden wollen. Sein letztes Album hat er über sechs Monate lang in seinem Haus in Brandenburg eingespielt. Warum aber sind junge Milde wie er seit gefühlten Ewigkeiten so beliebt? Womit lösen sie diese bedingungslose Hingabe bei Millionen Menschen aus?
Auf seinen Tourstationen in Münster, Kassel und Hannover scheint der Sänger routiniert und distanziert. Er kommt erst am späten Nachmittag zur Halle und geht sofort nach dem Konzert. Mit der Band sitzt er nie zusammen, weder am Donnerstag, als Sommerrollen auf dem Speiseplan stehen, noch am Sonntag bei Curry mit Huhn. Als sich zwei Bandmitglieder darüber unterhalten, dass sich Bendzko entziehe, sagt einer: "Tim ist einfach nicht so gesellig. Alle wollen was von ihm."
Tim Bendzko ist der Quasi-Chef von 40 Mitarbeitern, allesamt Profis, die es schaffen, aus der Tristesse einer mitteldeutschen Mehrzweckhalle die Illusion der Pop-Poesie herbeizuzaubern. Jeden Morgen ab acht Uhr werden 80 Tonnen Scheinwerfer, Kabel und Instrumente verlegt, festgezurrt und gestimmt.
Auf Tour gehen ist auch eine Dienstleistung. Der Applaus gibt an, wie gut wir sie abgeliefert haben
Um 16 Uhr erfolgt der Soundcheck. Bendzko kommt wie immer erst später. "Am liebsten würde ich eine halbe Stunde vor der Show kommen", sagt er. Das Abhängen in den Hallen mache ihn ungeduldig. Er umarmt alle. Der Ton der Tour: freundlich, familiär, höflich.
Die Berufsmusiker aus Bendzkos Band sind Teil im Popnetzwerk der erfolgreichen Chartmusik. Dort spielt man nicht vor, sondern wird weiterempfohlen: Der Gitarrist spielt mit bei Adel Tawil und Mark Forster, der Bassist bei Lena Meyer-Landrut, die Background-Sängerin bei Peter Maffay. Die Köchin kocht auch für Bushido. Bei dem gibt es aber mehr Lamm und mehr Geschrei.
Bendzko sagt: "Auf Tour gehen ist auch eine Dienstleistung. Der Applaus gibt an, wie gut wir sie abgeliefert haben." Was einerseits nach Restaurantbewertungs-App klingt, könnte andererseits die sehr ehrliche Antwort eines Musikprofis sein. Nicht alle erleben es als orgiastisch, auf der Bühne zu stehen. "Ich finde es schon schön", sagt Bendzko, "aber ich kann mich nur selten fallen lassen." Die Stimmung könnte ja immer wieder abflachen, die Euphorie nicht anhalten.
Popstars funktionieren, weil sie die Sehnsüchte der Massen darstellen. Tim Bendzko aber dekonstruiert diese Rolle. Er wirkt unverstellt. Dabei klingt sein Werdegang nach dem Musterbeispiel eines Motivationsratgebers: Als Elfjähriger beschloss er, Sänger zu werden. Mit 15 nahmen er und sein bester Freund sich vor, in einer Band zu spielen, heute ist Philipp immer noch als Backgroundsänger dabei. In einer der letzten Unterrichtsstunden vor dem Abitur sang Bendzko wie Xavier Naidoo am Klavier, erinnert sich sein damaliger Musiklehrer. Fünf Jahre später gewann Bendzko einen Song Contest der Söhne Mannheims und trat mit ihnen in der Berliner Waldbühne auf.
Aus der Sehnsucht kann ein Alltagsjob werden
Tim Bendzko hat sein eigenes Ziel tatsächlich erreicht. Doch wird auf der Tour deutlich: Aus der Sehnsucht kann ein Alltagsjob werden. Er ist ein Handwerker der Gefühle. Seine Musik berührt die Fans, nicht ironisch wie Deichkind, nicht auf die Fresse wie Bushido, nicht intellektuell wie Bob Dylan. Sie fühlen sich – verstanden.
Vier Freundinnen sitzen auf Fleecedecken vor dem Absperrgitter in Hannover. So früh hätten sie nicht kommen müssen, aber: "Das Warten gehört zur Show", erklären sie. Picknickstimmung auf Asphalt. Die vier inszenieren ihre Aufregung. "Ich hätte vom Ticketgeld bestimmt zweimal auf die Malediven fliegen können", sagt Mariama, 21, "aber ich bereue keins der Konzerte." – "Na ja, die letzten drei hätten wir uns sparen können. Zwölf Konzerte haben gereicht", sagt Sina, 20.
Sie lachen. Alle haben Tim Bendzko mehr als 20-mal live gesehen. Seine Musik ist der Soundtrack ihres Erwachsenwerdens. Sie haben seinen Namen auf ihre Kinderzimmerwände gepinselt und wollten sich seine Songzeilen tätowieren lassen. "Zum Glück meinte meine Mutter: Kind, denk noch mal drüber nach!", sagt Jasmin, 21, Heilpflegerin aus Osnabrück. "Man wird belächelt, wenn man auf so viele Konzerte geht", sagt Annika, 23, Erzieherin aus Bremen. "Mein Freund meinte: Viel Spaß bei Tim. Sag ihm, dass seine Musik schwul ist", sagt Mariama.
Sie ignorieren die blöden Sprüche. Inzwischen geht es mehr um sie selbst denn um Bendzko – darum, sich wiederzusehen, um einen Kurzurlaub vom Alltag. "Oh Gott, ich werde nachher bestimmt heulen", sagt Mariama. Ein Bote bringt Pizza. Fünf Stunden noch bis zum Konzert.
Ja, er war bis zur B-Jugend Spieler beim Fußballverein 1. FC Union
Es sind vor allem die Texte, die Bendzkos Anhänger berühren – genauso wie ihn selbst: "Das ist der Grund, warum ich Lieder sing / weil mir sonst das Herz zerspringt / ich sing nicht für den Applaus / gehört zu werden reicht mir aus."
Auch mit 32 sieht er noch aus wie Michel aus Lönneberga. Süß genug, um als Projektionsfläche für pubertäre Hormonwallungen herzuhalten. Reflektiert genug, dass man seine Lieder auch nach der ersten Scheidung hören kann.
Nach dem Soundcheck gibt er Interviews. "Ich habe gelesen, du warst mal Profifußballer." – "Heute schon die Welt gerettet?" – "Machst du eigentlich Schlager?" – "Wie oft wirst du mit Matthias Schweighöfer verwechselt?"
Seit sechs Jahren beantwortet er höflich und anekdotenreich die selben Fragen. Ja, er wuchs in Berlin-Köpenick auf und war auf dem Sportgymnasium. Ja, er war bis zur B-Jugend Spieler beim Fußballverein 1. FC Union. Und brach sein Theologiestudium nach fünf Semestern ab. Und auktionierte zwei Jahre lang Gebrauchtwagen. Und sein Chef sagte ihm damals: Wenn es mit der Musik nicht klappt, kannst du immer zurückkommen.
Es passiert oft, dass die Manager der Künstler vor dem Interview erklären, was man nicht fragen dürfe. Bei Bendzko tun das auch die Fans: "Frag Tim bloß nicht nach seiner Freundin. Da blockt er gleich ab." Doch auch sie ist öffentlicher Teil des Bendzko-Universums. Den Tag über filmen sie sich gegenseitig für Instagram Live. In den Videos beantworten sie, was die Nachteile zweier Matratzen sind, was ihre Lieblingslieder von ihm sind.
Tim Bendzko macht zwei Liegestütze, kreist die Arme, tänzelt seine Freundin an, küsst sie
In den sechs Jahren seines Erfolgs hat sich Tim Bendzko als Popstar perfektioniert. "Bei der letzten Tour war ich schon am dritten Tag völlig fertig", sagt er. Jetzt aber mache er jeden Morgen Fitnessübungen. Esse zweimal am Tag glutenfreies Brot mit Avocado, Hummus und drei Spiegeleier – Tims Spezial. Alkohol trinkt er nicht, reizt die Stimmbänder. Wenn die Stimme kratzt, redet er nicht. Auf der ersten Tour schlief er noch mit der Band im Bus, inzwischen nimmt er ein Hotel und fährt am nächsten Tag hinterher. "Außerdem ist es doch ganz gut, wenn die Band mal über ihren Chef lästern kann", sagt er und grinst.
Vor jeder Show wärmen sich die Musiker im Kreis auf, schütteln Arme und Beine. Sieben Minuten noch. Bendzko macht zwei Liegestütze, kreist die Arme, tänzelt seine Freundin an, küsst sie, geht die Treppen stufen hinauf zur Bühne, legt den Kopf in den Nacken. Es ist 19.59 Uhr.
Als seine Karamellbonbon-Stimme die Halle füllt, kreischt das Publikum. Der Vorhang hebt sich. "Ich werde oft nach Botschaften gefragt", sagt Bendzko. "Aber ich glaube, ich weiß nicht mehr als jemand, der nicht in der Öffentlichkeit steht." Jubel.
Seine Zeilen wirken wie ein Großeinkauf in einer deutschen Drogerie: Fühl-dich-wohl-Tee, Denk-an-dich-Entspannungsbad, Gib-nicht-auf-Pflaster. Im Publikum stehen Kinder, gerade mal so hoch wie die Absperrgitter; Multifunktionsjackenpaare, junge Mädchen, ältere Frauen. Auch wenn Bendzko abstreitet, eine Botschaft zu haben, so erkennt man sie doch: Ich bin okay, du bist okay, wir sind okay.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals länger als einen Monat sicher war
Er sagt: "Man ist immer auf der Suche – das ist mein Thema. Egal, was du machst oder ob du irgendein Ziel erreichst – eine Woche später sitzt du wieder da und überlegst: Was kommt jetzt? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals länger als einen Monat sicher war: So wie es jetzt ist, läuft es von allein weiter. Man muss immer den nächsten Schritt machen."
Knapp zwei Stunden, 23 Lieder spielt die Band. In Kassel wird ein Mädchen bewusstlos hinausgetragen, in Hannover tanzen zwei Sanitäter Walzer, während die Mitarbeiter schon die Vorkehrungen für Bendzkos nächste Schritte treffen. Die letzten Lieder erklingen, und die Bühnenbauer stehen parat, um alles einzupacken. Die Köchin räumt das Büfett ab. Die Tourmanagerin hält Handtuch und Wasserflasche bereit. Die Busfahrer schlafen vor, um die Crew nachher, nachts um zwei, in die nächste Stadt zu fahren.
Die vier jungen Frauen stehen in der ersten Reihe. Mariama wischt die Tränen weg. Sina wankt zu den Sanitätern, sie fürchtet, ohnmächtig zu werden. Jasmin singt. Annika schließt die Augen. Sie lachen und klatschen, um ihre Handgelenke leuchten Knick lichter.
Tim Bendzko macht sich sofort auf den Weg ins Hotel, "duschiduschi machen", wie er das nennt. Sein Fazit für Instagram: Irre! Überragend! Der Oberwahnsinn! "Manchmal kann ich nach dem Konzert nicht aufhören zu grinsen", sagt Mariama. Vielleicht ist es das, wofür sich alles lohnt: Für 41,30 Euro verwandelt sich Dienstleistung in Erinnerung.
