Die Frage ist einfach. "Was habe ich falsch gemacht?", will Susanne Neumann wissen. Und zig Menschen, die in diesem Moment vor dem Fernseher sitzen, dürften wohl ebenso ratlos sein. Weil sie selbst diese Frage umtreibt. Sonntagabend, "Anne Will" im Ersten, das Thema: "Heute kleiner Lohn, morgen Altersarmut - versagt der Sozialstaat?" Susanne Neumann hält ein schwarzes Stoff-Schaf in ihren Händen. Es sind Hände, die viel harte Arbeit getan haben. Seit Jahrzehnten ist Neumann als Gebäudereinigerin in einem Gelsenkirchener Unternehmen beschäftigt. "Ich war nie faul, ich habe immer malocht", sagt die 66-Jährige. "Aber von meiner Rente kann ich nicht leben." Dann wieder die Frage: "Was habe ich falsch gemacht?".
Keiner in der Runde antwortet. Und auch: Keiner in der Runde dürfte verstehen, aus eigener Erfahrung verstehen, wovon Neumann überhaupt spricht. Die weiteren Gäste: SPD-Politikerin Hannelore Kraft, Unternehmer Hubertus Porschen, Wirtschaftsjournalist Rainer Hank und Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin.
Anne Will: Sendung mit "Ahnungslosen"
Im Online-Forum zur Sendung sind wütende Kommentare zu finden: "Die sollten mal auf den Bau oder in ein Krankenhaus zum Arbeiten gehen." Es handle sich um eine Sendung mit "Ahnungslosen", mit einer "Fehlbesetzung", mit "unerträglichen Luxusrenten-Empfängern". Susanne Neumann ausgenommen. Sie sei "endlich jemand, der das wirkliche Leben kennt." Nah dran die eine, weit weg die anderen. Der Vorwurf der Realitätsferne ging insbesondere an Rainer Hank. Zahlreiche Foristen wetterten.
Beispielsweise so: "Frage mich gerade, auf welchem Planeten der lebt. Wie soll jemand, der 8,50 Euro verdient, sparen, um Geld für Riester übrig zu haben?" Oder so: "Sie leben wohl auf einer Insel der Seligen? Setzen 6!" Über die Diskussion zwischen Neumann und Hank schrieb ein Zuschauer: "Eine Putzfrau erklärt einem welt- und realitätsfremden Wirtschaftsredakteur die Altersarmut und das wahre Leben - meinen Respekt." Eine andere Userin schimpfte: "Ich muss andauernd vom Fernseher wegrennen, weil ich die ganze Diskussion nicht aushalte".
Reden um des Redens willen
Die Wut zeigt: Die meisten Zuschauer haben genug von Menschen, die über ein Thema sprechen, zu dem sie aus eigener Erfahrung überhaupt nichts beitragen können. Kaum ein Polittalk, bei dem das nicht angekreidet wird. Man kennt das auch aus der Ära Jauch. Im deutschen Talkshow-Kosmos wird eben geredet um des Redens willen. Das ist wohl so Gesetz. Ebenso beliebt: Um den heißen Brei herumreden. Auch dieses Mal wussten die Talkgäste, wie's geht. Besonders talentiert: Hannelore Kraft. Zur Faktenlage, dass CDU und SPD die gesetzliche Rente radikal gekürzt und gleichzeitig den Niedriglohnsektor und prekäre Arbeitsverhältnisse massiv ausgeweitet haben, verlangte Anne Will ein Statement: "Warum hat die Politik das zugelassen?" Die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen war zwar nie um einen Redeschwall verlegen, nur passte der nicht zu dieser, und meistens auch nicht zu anderen Fragen. Auch auf die Überlegung, warum nicht künftig alle in die Rentenversicherung einzahlen, wurde nicht eingegangen.
Horst Seehofer war es, der jüngst ein Schreckensszenario ausmalte. Und dabei deutlich machte: Die CSU hat die sichere Rente als Wahlkampfthema für 2017 entdeckt. Der Ministerpräsident von Bayern prognostizierte, dass die 2001 beschlossene Kürzung des Rentenniveaus dazu führe, dass "etwa die Hälfte der Bevölkerung" im Alter in der Sozialhilfe landen werde - sofern sich nichts ändere. Journalist Hank nannte diese Behauptung "grob fahrlässig", denn die Zahl sei falsch. Er verwies auf eine Studie des Max-Planck-Instituts wonach momentan drei Prozent der Deutschen im Alter von Grundsicherung leben würden, zukünftig rechne man schlechtestenfalls mit neun Prozent. Selbst die Caritas sei, so Hank, über die Zahl empört, die Seehofer ins Spiel bringe.
Wer arm ist, bleibt arm
Thema Riester-Rente. Marcel Fratzscher dazu: "Riester ist gescheitert, da sind wir uns wohl allgemein einig." Hank betonte, Riester hätte immerhin das Bewusstsein für die private Vorsorge geweckt. Nun müsse jeder andere Formen finden, privat zurückzulegen. Hubertus Porschen plädierte dafür, die unterschiedlichen Anlagemöglichkeiten zu überprüfen. Mit Aktien die deutschen Renten dem Marktrisiko aussetzen- warum nicht. Man müsse mehr Mut haben, mehr Zukunft gerichtetes Denken. Schnell folgte der Realitätscheck von Susanne Neumann, die in ihrem Amt als Bezirksvorsitzende für den Bereich Emscher-Lippe-Aa in der Industriegewerkschaft Bauen - Agrar - Umwelt, auch die Sorgen der Kollegen kennt. Und die drehen sich gewiss nicht um Aktien. Ihr Fazit: Wer am Ende des Monats nichts vom Lohn übrig hat, kann nicht privat vorsorgen.
Wer arm ist, bleibt arm - so brachte es Anne Will schließlich auf den Punkt. In den letzten zwanzig Minuten der Sendung plötzlich ein Eingeschworensein auf das Thema Bildung. Kitas, Schulen, werden da genug Gelder investiert? Bessere Bildung, bessere Renten - könnte das die Formel sein aus der Altersarmutsfalle? Nicht diskutiert wurde: Was, wenn immer mehr Deutsche einen Hochschulabschluss haben? Im Internetforum hingegen waren zuverlässig Gedanken zu finden, die in der TV-Diskussion unberührt blieben. So äußerte sich etwa ein User über eine mögliche Konsequenz, die aus einem Überangebot an Studenten drohe: "Eltern sitzen dann später ungepflegt in der Einsamkeit, weil sie keiner mehr pflegt, und in einer Wohnung mit kaputtem Wasserhahn, weil es keine Klempner mehr gibt."