Doku "Trotzdem China" Mit dem Rollstuhl auf die Chinesische Mauer

Von Alexander Kühn
Nach einem Unfall ist der Fernsehjournalist Marcel Bergmann querschnittsgelähmt. Langwierige Operationen, monatelanges bewegungsloses Liegen, damit die Wunden heilen. Am Leben hält ihn der Traum von einer Reise nach China, die er, von einem Fernsehteam begleitet, tatsächlich antritt.

Ihm ist, als hätten sie ihn verkehrt herum eingesargt. Er darf nicht aufs Klo, nicht sitzen, sich nicht drehen. Schon gar nicht auf den Rücken, dann würde sein Hintern wieder aufreißen. Acht Monate liegt Marcel Bergmann auf dem Bauch, von Februar bis Oktober 2005. Zimmer 5, Station J, Orthopädische Uniklinik Heidelberg.

Die klinische Gefangenschaft ist der größte Dämpfer seit dem Unfall, der ihn elf Jahre zuvor in den Rollstuhl gezwungen hat. Weil er von den Hüften abwärts nichts mehr fühlt, hat er sich wundgesessen, wundgelegen bis zur fiebrigen Entzündung. Sie schneiden ihm Gesäßmuskeln und Fettpolster heraus, es ist Operation Nummer neun. "Mein Hintern glich einem Kriegsschauplatz", sagt der 43-Jährige.

Flucht aus der Gruft

In jenen acht Monaten fährt er mit einem Holzfloß den Li Jiang hinunter, bezwingt das Huangshan-Gebirge, lässt sich bei Jasmintee und einer Schüssel Reis von der Abendsonne wärmen. Hundertemal, tausendemal bricht er bäuchlings zu seiner Gedankenreise auf. Als Fernsehjournalist hat er es gelernt, Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Es ist die einzige Möglichkeit, aus der Heidelberger Gruft zu flüchten.

Als er und sein chinesischer Freund Ham im vergangenen Herbst tatsächlich oben angekommen sind auf der Chinesischen Mauer, dank helfender chinesischer Hände, die beherzt den Rollstuhl angepackt haben, blickt er auf die Bergkuppen hinab und denkt: jetzt einfach nur Gegenwart erleben, mit aller Kraft und in vollen Zügen! Für einen Augenblick fühlt er sich überhaupt nicht behindert.

China wird zum Rauschmittel

Im Rollstuhl von Shanghai nach Peking, sich in eine fremde Kultur werfen – was für ein Irrsinn von einem Tagtraum, wenn man wie gefesselt auf dem Bauch liegt. 60 Länder hat Bergmann bereist, als er gesund war, in China war er nie, warum soll das jetzt nicht mehr möglich sein? Auf seinem Nachttisch türmen sich die Reiseführer, China wird sein täglicher Joint, der ihn aufmuntert in seiner Heidelberger Gruft.

Im Kopf hämmert wie ein Technobeat der Satz: Ich muss da hin! Er will die Reise seinen Eltern widmen. Vielleicht, denkt er, werden sie von da oben zuschauen: Seine Mutter, die 2005 an Krebs stirbt, doch ihr Sohn kann nicht bei ihr sein, weil er in seinem Krankenbett gefangen ist; und sein Vater, der an dem Tag sein Leben verliert, als Marcel Bergmann zum Behinderten wird. Am 26. November 1994.

"Ich bin in einer fremden Welt aufgewacht"

An jenem Tag sind sie im Jeep unterwegs von Mombasa nach Nairobi – ein Fahrer, ein Freund, Marcel Bergmann und sein Vater, dem er diesen Urlaub in Kenia zum 70. Geburtstag geschenkt hat. Plötzlich schert ein Bus zum Überholen aus und drängt den Jeep zur Seite. Ihr Fahrer rudert mit dem Lenkrad, hektisch, hilflos, dann saust der Wagen hinab in die Steppe und überschlägt sich mehrmals.

Zwei Monate später kehrt Marcel Bergmann in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Duisburg aus dem Koma zurück. "Ich bin in einer fremden Welt aufgewacht", sagt er. Den Vater haben sie längst beerdigt; Bergmann denkt: Warum bin ich nicht auch tot? Sein Rückenmark ist durchtrennt. Die Beine sind nicht mehr brauchbar, ihr einziger Dienst wird es künftig sein, ihn mit Phantomschmerzen zu quälen, bis heute. Die Ärzte schrauben ihm ein Stahlkonstrukt an, das macht den Kopf unbeweglich, damit die gebrochenen Halswirbel wieder zusammenwachsen.

Karl Senne kommt vorbei

Zu jener Zeit ist Bergmann freier Mitarbeiter der Sport-Redaktion des ZDF. Er glaubt nicht, dass sie ihn dort jemals wieder gebrauchen können. Einen, der nicht mehr laufen kann und dem Wörter nicht einfallen wollen – wenn er Thrombose sagen will, kommt Metamorphose raus. Seine Kollegen besuchen ihn in der Klinik. Karl Senne, sein Chef, bringt einen Videorekorder mit, er soll sich das "aktuelle Sportstudio" aufzeichnen und eine Kritik nach Mainz schicken.

Jedes Mal, wenn er die Sendung sieht, muss er weinen: Da zieht sein Job auf VHS an ihm vorbei. Eines Tages kommt Dieter Kürten ans Krankenbett und sagt: "Mein lieber Marcel, wir wollen, dass du bei uns bleibst. Wir werden dich nach deiner Entlassung aus der Klinik beim ZDF fest anstellen." Bergmann gewinnt seine Sprache zurück. Lernt, den Rollstuhl als Teil seiner selbst anzunehmen. Schon 1996 berichtet er fürs ZDF von den Olympischen Spielen in Atlanta.

Skorpion vom Spieß

Mainz, 2007. Als der Chinatraum allmählich Wirklichkeit wird, kommt ihm die Idee, darüber einen Film zu machen. Er erzählt Johannes B. Kerner davon, der sagt: "Ich will das produzieren." Ein Team von Kerners Produktionsfirma fliegt mit, dreht für die ZDF-Reihe "37 Grad". Bergmann schreibt später sein Buch "Trotzdem China". Darüber, wie auf dem Hinflug bereits der Besuch der engen Bordtoilette zum Abenteuer wird. Über einen Ausflug mit einem Fahrrad, das man von Hand lenken kann. Über seine Heldentat, Skorpion vom Spieß zu essen. Und darüber, wie ihn vier Chinesen auf einer Sänfte einen Berg hochtragen. Seine Erkenntnis nach 26 Tagen Urlaub: "China ist nicht behindertentauglich. Aber die Chinesen sind es."

April 2008, Marcel Bergmann liegt wieder im Krankenhaus, diesmal im hessischen Bad Wildungen. Er hat die zehnte Operation hinter sich. Sein Hintern hatte sich neu entzündet. "Trotzdem China" hat er als Hörbuch eingesprochen. Liegend, in der Krankenhauskapelle, dort ist es ruhig. Es gibt hellgraue Tage, dunkle und schwarze, sagt er. Das sind jene, an denen die Schmerzen so stark sind und das Leben so wertlos scheint, dass er sterben möchte.

Auf zu den Paralympics

Gerade sind seine Tage sehr hell, die Wunde heilt prächtig, Bergmann arbeitet auf den 8. Mai hin, für diesen Tag hat ihn das "Mittagsmagazin" eingeladen, tags darauf ist er Gast in "Volle Kanne". Am 13. Mai wird das ZDF den Film über seine Reise zeigen. Und im August wartet noch ein großer Einsatz auf ihn. Als Reporter bei den Paralympics in Peking.

37 Grad: "Trotzdem China", 13. Mai 2008, 22.15 Uhr, ZDF

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