TV-Kritik Anne Will: "Wir können die Bars nicht mehr wie früher öffnen"
TV-Kritik
Anne Will"Wir können die Bars nicht mehr wie früher öffnen" – und niemand in der Runde widerspricht
Ranga Yogeshwar, Frank Ulrich Montgomery, Malu Dreyer, Moderatorin Anne Will, Hendrik Streeck und Marina Weisband (v.l.n.r.) diskutierten am Sonntag über unsere Zukunft mit Corona und die Art, wie wir über das Virus sprechen.
Anne Will zieht nach einem halben Jahr Coronakrise Bilanz – die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Pandemie schwindet. Da wird es Zeit, darüber zu reden, wie wir über das Virus reden.
Von Jan Zier
Natürlich müssen wir über Corona sprechen. Auch bei Anne Will. Über was auch sonst, möchte man sagen. Und wenn es schon nicht viel Neues zum Thema zu sagen gibt, so kann man doch wenigstens mal etwas Bilanz ziehen: "Ein halbes Jahr Coronakrise – geht Deutschland mit der richtigen Strategie in den Herbst?"
Die Gäste bei Anne Will
Malu Dreyer (SPD, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz)
Ranga Yogeshwar (Wissenschaftsjournalist)
Hendrik Streeck (Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Universität Bonn)
Frank Ulrich Montgomery (Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes)
Marina Weisband (Autorin und politische Aktivistin)
Allseits war die Runde bestrebt, Konfrontationen und Polarisierungen zu vermeiden und sie widersetzte sich auch tapfer allen Versuchen der Moderatorin, die einen oder anderen gegeneinander auszuspielen.
Montgomery spricht von einer "Dauerwelle"
"Differenziert hinzusehen", so Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, sei das Gebot der nächsten Wochen, Monate, vielleicht Jahre. Gerade Virologe Hendrik Streeck und der Chef des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery mühten sich, der verbreiteten Hoffnung, die Corona-Pandemie sei bald vorbei, den Boden zu entziehen: "Es wird uns nicht erspart bleiben, dauerhaft mit dem Virus zu leben", sagt Montgomery, der nicht von einer zweiten, sondern von einer "Dauerwelle" spricht. Er fände es "unseriös", auf einen kurzfristig verfügbaren Impfstoff zu hoffen, sagt Streeck – das könne schon auch noch Jahre dauern.
"Wir werden uns alle noch viel verzeihen müssen"
Überhaupt will die Runde vor allem darüber reden, wie wir über das Thema Corona reden: "Wir müssen besser kommunizieren", sagt die Aktivistin Marina Weisband. "Wir werden uns alle noch viel verzeihen müssen", sagt Montgomery und zitiert damit wohlwollend den CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn. Yogeshwar besorgt vor allem, wie soziale Medien mit dem Thema umgehen, wo schräge und falsche Botschaften meist mehr Klicks bekämen als seriöse und wohl informierte. Virologe Streeck plädiert derweil für ein Ampelsystem, um einfacher und klarer mit den Menschen da draußen zu kommunizieren und nicht immer nur auf Infektionszahlen zu schauen. In der Runde findet das allgemeine Zustimmung, gerade auch bei Malu Dreyer, die hier die Politik vertritt. Ebenso wie der Vorstoß von Marina Weißband, die Bevölkerung, etwa in BürgerInnen-Räten, stärker mit einzubeziehen. Wer mehr mitzureden habe, verhalte sich auch verantwortungsvoller, so ihr Credo.
Ein Glas Rotwein, aber kein "rumrocken und tanzen"
"Wir können die Bars nicht mehr wie früher öffnen", sagt Montgomery. "Über Fußball, Konzerte und Feiern reden wir ganz zum Schluss", sagt Weisband. In der brachliegenden Veranstaltungsbranche, die gerade permanent protestiert, werden sie das nicht gern hören. Doch in der Runde widerspricht keiner. "Ein gepflegtes Glas Rotwein", doch, das sei schon drin, sagt auch Montgomery. Aber "rumrocken und tanzen" nicht, sagt Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Viele Menschen, die eng beieinander sitzen oder stehen, singen und feiern: daran sei nicht zu denken, findet Streeck. Das eigentliche Problem, ergänzt Yogeshwar, "kommt aber noch" – wenn es kälter wird, und man nicht mehr, so wie jetzt, vielfach draußen sitzen kann und will. Zum Beispiel in Bars.
Die Erkenntnisse aus der Sendung
"Keiner weiß, wie es geht", sagt Virologe Hendrik Streeck, "kein Virologe, kein Epidemiologe, kein Politiker." Er plädiert für das gut kontrollierte Ausprobieren.
Die Zustimmung zu den getroffenen Maßnahmen ist hierzulande weiterhin hoch: 66 Prozent der Bevölkerung finden sie ausreichend, 18 Prozent möchte sie verschärfen, zitiert Frank Ulrich Montgomery aus einer Umfrage.
Am 15. April gab es in Deutschland rund 127.000 mit dem Corona-Virus infizierte Menschen und eine Sterberate von sieben Prozent, an 15. September waren es rund 270.000 Infizierte, bei einer Sterberate von 0,1 Prozent. Die Zahl der belegten Intensivbetten wiederum fiel in dieser Zeit signifikant. Aber die Infektionszahlen werden im Herbst und Winter wieder steigen, sagt Streeck, der auch schon prophezeiht, dass es dann schwer wird, mit den Testungen hinterher zu kommen. In Frankreich gibt es derzeit rund 13.000 Neuinfektionen am Tag, in Spanien rund 10.000, Wien wurde zum Risikogebiet und Israel hat schon wieder einen Lockdown.
In Deutschland starben im Zuge der Corona-Pandemie bisher etwa 10.000 Menschen, sagt Yogeshwar, im kleineren Großbritannien aber schon über 40.000. Die Gefahr von Covid-19 sei deshalb für die meisten "eher abstrakt" – anders als in Norditalien.
Fazit
Das mit dem "differenziert hinsehen" sollte auch dann das Credo bleiben, wenn mal wieder von was anderem die Rede ist, von Klimawandel etwa, oder von Rassismus.