So war es immer: Du starrst auf diese Zeitungsseite, den Aufmacher des Feuilletons, sechs gnadenlose Spalten voller bleiernem Buchstaben-Grau - eigentlich ein Grund weiter zu blättern. Aber dann steht über dem Artikel: Von Frank Schirrmacher. Und du weißt: Wenn du dieses Opus Magnum überspringst, fehlt dir als Journalist, aber auch als Bürger, der am öffentlichen Diskurs interessiert ist, die theoretische Grundlage für die Debatten der nächsten Tage, Wochen, Monate. Der mit 54 Jahren verstorbene Herausgeber des "FAZ"-Feuilletons rezensierte, dachte vor, eröffnete furiose Debatten, grub aus, was andere übersahen.
Als beispielsweise der erzkonservative britische Publizist Charles Moore während der tobenden Finanzkrise im "Daily Telegraph" die Frage stellte "Hat die Linke nicht am Ende Recht?", holte Schirrmacher das Thema nach Deutschland. Schon mit dem ersten Satz baute er das Dach, unter dem die Auseinandersetzung in Feuilletons und Talk-Runden dann Fahrt aufnahm: "Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik." Ein typischer Schirrmacher. Als Journalist in diesem Land hast du dich dann gefragt: Warum bist du nicht selber auf dieses Thema gekommen? So war es immer.
Nur selten setzte sich Schirrmacher in Talkshows. Seinen Namen machte er fast ausschließlich mit dem geschriebenen Wort zur Marke, eher unüblich in digitalen Zeiten. Der Respekt vor seiner Gestaltungsmacht war nicht das Ergebnis von investigativen Recherchen oder exklusiven Enthüllungen. Es waren seine exklusiven Gedanken, die wir vermissen werden, weshalb wir uns verneigen müssen und gemeinsam trauern mit Frank Schirrmachers Familie und den Kollegen der "FAZ". Niemand sonst in der Medienwelt verkörperte glaubwürdiger das Versprechen seines Mediums: Dahinter steckt ein kluger Kopf.
Nachrufe auf Frank Schirrmacher
Schirrmachers Tod löste in allen Zeitungsredaktionen des Landes große Bestürzung aus. Eine Auswahl an Nachrufen:
"FAZ": Ein sehr großer Geist
"Frank Schirrmacher, der sprach- und wirkmächtigste Kulturjournalist, den Deutschland je hatte, ist tot. Er starb am Donnerstag, dem 12. Juni 2014, in Frankfurt am Main und wurde vierundfünfzig Jahre alt. Niemand, der sich auch nur ein wenig für die Welt des Geistes interessiert, wird diese Nachricht fassen können. Das hat nicht nur mit dem Lebensalter zu tun, in dem dieser in vielerlei Hinsicht einzigartige, große Mann von uns gehen musste, sondern auch mit dem, was er selbst für diese Geisteswelt getan hat, in und außerhalb dieser Zeitung, der er rund dreißig Jahre angehörte, davon die letzten zwanzig als für das Feuilleton verantwortlicher und es in jeder Hinsicht prägender Herausgeber. (...) Die Bedeutung seiner immensen Intellektualität wird man zu diesem Zeitpunkt nicht ermessen können."
"Zeit-Online": Das abenteuerliche Herz
"Er setzte immer ein bisschen früher als alle anderen die Themen: die Überalterung der Gesellschaft, der Geburtenrückgang in Deutschland, der Zerfall der alten Familienstrukturen, die Bedeutung der Genforschung. In den letzten Jahren hatte er sein großes Lebensthema gefunden und als einer der ersten vor dem Ausmaß der digitalen Revolution gewarnt. Hier, im Netz, im Kampf gegen die Übermacht von NSA und den großen Internet-Giganten ging die Schlacht um die Geschichte, die ihn elektrisierte, in die nächste entscheidende Runde. Hier war er endlich im absoluten Zentrum der Gegenwart angekommen, da, wo sie täglich neu hergestellt wird, wo ihr Herz schlägt. "
"Süddeutsche Zeitung": Mann der Zukunft
"Frank Schirrmacher war aber nicht nur ein klassischer Kulturmensch, nicht nur ein scharfer Gesellschaftskritiker konservativer Tradition, nicht nur ein großer Publizist. Er war auch einer der ersten "Digerati", also einer jener Intellektuellen des 21. Jahrhunderts, die auf dem Scheitelpunkt zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften eine Zukunft erkannten, die von den Technologien getrieben neue Welten eröffneten. Weil er aber aus der europäischen Tradition des kritischen Denkens kam, war er weitgehend immun gegen die verführerische Euphorie, die von den amerikanischen Küsten über den Atlantik wehte."
"Spiegel-Online": Diese herrliche Lust am Untergang
"Schirrmacher war ein politischer Mensch, auch das unterschied ihn von vielen, die ansonsten im Feuilletongeschäft sind. Weil er früher und klarer als andere sah, wohin Dinge trieben, konnten seine Einlassungen unerhörte Wirkung entfalten. Nicht die "Bild"-Zeitung hat Christian Wulff am Ende am meisten geschadet, es war ein "FAZ"-Kommentar, in dem Schirrmacher dem Bundespräsidenten den Verlust einer ganzen moralischen Kategorienwelt attestierte. "Vernichtung von Kapital: das kennen wir", begann der Artikel, "Vernichtung von symbolischem Kapital: das lernen wir jetzt kennen." Manchmal reichen wenige Sätze, um das Schicksal eines Menschen zu besiegeln."