"Body Count" TikTok-Nutzer prahlen mit der Anzahl ihrer Sexualpartner: Warum das problematisch ist

TikTok
Das chinesische Videoportal TikTok sorgt mit fragwürdigen Challenges und Trends regelmäßig für Aufsehen.
© LOIC VENANCE / AFP
Schon einmal etwas von "Body Count" gehört? Der aus Kriegszeiten stammende Begriff steht auf TikTok für die Anzahl an Sexualpartnern einer Person. Was dahinter steckt und warum der neuartige Trend aus psychologischer Sicht problematisch ist.

Auf TikTok verbreiten sich fragwürdige Trends und Dynamiken wie Lauffeuer. Bereits in der Vergangenheit hat die Plattform mit gesundheitsschädlichen und fragwürdigen Challenges wie der "Blackout Challenge",  für Diskussionen gesorgt. Jetzt macht ein weiterer Trend die Runde: Mithilfe des sogenannten "Body Counts" vergleichen junge TikTok-Nutzer die Anzahl ihrer Sexualpartner miteinander – und bewerten, welcher Body Count bis zu einer gewissen Altersgrenze anzustreben ist.

Während sich vor allem männliche Nutzer in Challenges gegenseitig zur Steigerung ihres Body Counts antreiben, wird über den Wert von Frauen streng geurteilt. Frauen mit einer geringen Anzahl an Geschlechtspartnern gelten dabei als besonders attraktiv, daneben wird darüber diskutiert, wie viele Partien bei einer Frau noch als "vertretbar" angesehen werden können.

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Trend mit psychischen und gesellschaftlichen Folgen

Der Hashtag zum Thema, der seit 2020 auf der Plattform kursiert, hat mit mittlerweile knapp 930 Millionen Aufrufen eine enorme Reichweite. Neben Videos von Männern und Frauen, die ihren Body Count nüchtern, fast schon sachlich offenbaren, erfreuen sich vor allem Shortclips von öffentlichen Straßenumfragen großer Beliebtheit. In diesen werden fremde Menschen in der Öffentlichkeit nach ihrem Body Count gefragt – oder sollen den Body Count von anderen (meist weiblich gelesenen) Personen allein anhand ihres Aussehens bewerten. Ein oberflächlicher Spaß, der tiefgreifende psychische Folgen mit sich bringen kann.

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Neben Vergleichsprozessen und sexuellem Druck fördert die Diskussion um den "richtigen" Body Count vor allem eine gestörte Ansicht bezüglich des Verhältnisses zwischen Mann und Frau. Ein Rückschritt in der Wahrnehmung der Geschlechterrollen und der (sexuellen) Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern kann die Folge sein. Denn während Männer für einen besonders hohen Body Count gefeiert werden und Anerkennung erfahren, werden Frauen für das freie Ausleben ihrer Sexualität verurteilt und abgelehnt. "Der Marktwert einer Frau sinkt mit der Anzahl ihrer Body Counts", heißt es zum Beispiel in einem TikTok-Video, "mehr als zwei Geschlechtspartner gehen bei einer Frau nicht" in einem anderen.

Body Count historisch gewachsen

Die aktuellen Diskussionen auf TikTok erinnern an die Debatten zum Phänomen "Slutshaming", welches 2011 im Rahmen der sogenannten "Slutwalks" große Aufmerksamkeit erfuhr. Nach den Worten eines kanadischen Polizisten, dass "Frauen sich nicht wie Schlampen kleiden sollten, um vor Sexualverbrechen besser geschützt zu sein", kam es damals zu weltweiten Protesten gegen die sogenannte Täter-Opfer-Umkehr und für das Recht von Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung.

Slutshaming bezeichnet die Abwertung einer in der Regel sexuell aktiven Frau, die sich durch den Begriff "Schlampe" für ihr unannehmliches Verhalten bestraft und ausgegrenzt fühlen soll. Dabei bezieht sich der Begriff nicht nur auf das Sexualverhalten einer Person, sondern auch auf ihr äußeres Erscheinungsbild, wobei "sexuell provokative" Kleidung begünstige, dass eine Person als sexuell aktiv eingeordnet wird. Soweit die Theorie. Wie Marina Thomas, Medien- und Sozialpsychologin mit dem Schwerpunkt Sexualität am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, erklärt, sei Slutshaming im Allgemeinen und Body Count im Besonderen aber kein neuartiges Phänomen, sondern historisch gewachsen.

TikTok lässt konservative gesellschaftliche Normen aufleben

"Frauen wurden und werden abgestraft, wenn sie viele – vor allem oft wechselnde – Sexualpartner haben", erklärt die Expertin dem stern. So sei das Sexualleben einer Frau in damaliger Zeit in der Regel noch öffentliches Thema und das "Kontrollieren weiblicher Sexualität" ein Ersatz für den Vaterschaftstest gewesen. Hatte eine Frau mehrere Sexualpartner wurde dies öffentlich abgestraft. "Eine Mutter erhielt beispielsweise keinen Unterhalt für ihr Kind, wenn mehrere Männer aussagten, Sex mit ihr gehabt zu haben", sagt Thomas. Auf TikTok zeige sich jetzt die konservative gesellschaftliche Norm aus damaliger Zeit, die durch den anonymen, ungefilterten Austausch auf der Plattform wieder auflebe – und das, obwohl wir in Puncto Gleichberechtigung seit Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes 1958 gesellschaftlich bereits schon viel weiter sind.

Treiben uns soziale Medien wie TikTok also jetzt wieder in alte Verhaltensmuster zurück und begünstigen einen gesellschaftlichen Rückschritt, geleitet von Stereotypen, in denen Männer ihre Sexualität ungehemmt ausleben können, während Frauen zu "Anstand" und sittsamen Verhalten angehalten sind? "TikTok ist natürlich nicht die Ursache für diese Denkmuster, aber es trägt dazu bei, dass sie wieder an die Öffentlichkeit kommen", antwortet Thomas auf die Frage.

Verunsicherung bezüglich eigener Identität und normgerechtem Verhalten

Das eigentliche Problem sieht die Psychologin in der zunehmenden Verunsicherung junger Menschen im Hinblick auf die eigene Identität und normgerechtes Verhalten. "Es ist zwar ein gesellschaftlicher Fortschritt, dass wir starre Rollenbilder loslassen, aber es bringt auf individueller Ebene auch Verunsicherungen mit sich, wohingegen man sich früher an starren Genderrollen orientieren konnte." In TikTok-Challenges wie Body Count finden junge Erwachsene die vermeintlich verloren gegangene Orientierung nun wieder, verlieren dabei aber aus dem Auge, dass dabei aber auch konservative Denkmuster nach dem Motto "Männer sind Jäger und Frauen passive Objekte" wieder an Präsenz gewinnen.

"Am problematischsten finde ich Straßenumfragen, bei denen Männer die Anzahl der Sexualpartner von Mädchen und Frauen erraten sollen", sagt die Expertin. Das Prinzip solcher Umfragen orientiere sich an popkulturellen Phänomenen wie der "Heiße-Irre-Skala" aus Sendungen wie "How I Met Your Mother" und Co. und reduziere Frauen auf Zahlen.

Das Erraten des Body Counts sei jedoch deutlich invasiver als die oberflächliche Beurteilung der Attraktivität einer Frau. "Man soll bei fremden Frauen aufgrund äußerlicher Merkmale einschätzen, wie 'leicht sie zu haben' sind. Das geht in Richtung: 'Wer einen kurzen Rock und künstliche Fingernägel trägt, will doch nur rumgekriegt werden'", gibt Thomas zu bedenken.

Zusammenhang mit Täter-Opfer-Umkehr und "Victim blaming"

Thomas spielt hier auf die Täter-Opfer-Umkehr an, wobei die Schuld des Täters an einer Straftat auf das Opfer abgeladen wird. "Allein anhand äußerlicher Merkmale zu beurteilen, wie sehr sich Frauen gegen Sex und sexualisierte Gewalt wehren, ist brandgefährlich und verschleiert Opfer- und Täterverhältnisse", betont die Expertin. Eng verwandt ist die Problematik mit dem sogenannten "Victim blaming", bei dem das Opfer einer Straftat – beispielsweise einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung – beschuldigt wird, die jeweilige Tat mit aufreizender Kleidung oder anzüglichem Verhalten verursacht zu haben. Daraus können Depressionen, Traumata und Traumafolgestörungen resultieren. 

Um die Bedeutung des Body Counts in eine andere Richtung zu lenken, empfiehlt Thomas jungen Mädchen und Frauen, die bei dem Trend mitmachen und eine Antwort geben wollen, nur die Anzahl der Sexualpartner zu nennen, bei denen sie auch zum Orgasmus gekommen sind. "Das würde nicht nur die Zahl senken (um der konservativen Norm zu entsprechen), sondern den Trend auch etwas umdeuten. Denn: Die Anzahl ist ja nicht alles, Quantität ist nicht gleich Qualität." Das sehe man allein schon auf Dating-Plattformen wie Bumble, Tinder und Co. Die Anzahl an Geschlechtspartnern hat weder eine Aussagekraft über den Wert eines Menschen noch über dessen Beziehungs- oder Familienfähigkeit. Solange Sex einvernehmlich ist und die eigene Gesundheit nicht gefährdet, ist das Sexleben jeder Person Privatsache.

Übrigens: Noch makabrer erscheint der Body Count im Hinblick auf seinen Begriffsursprung: Der Body Count bezeichnet nämlich eigentlich im militärischen Umfeld die Anzahl der Körper, die von der gegnerischen Partei im Rahmen eines Krieges getötet wurden. 

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