Irgendwann am Freitag, die BBC vermeldete das natürlich als Eilmeldung, schlossen die Behörden die Schlange, die nun acht Kilometer reichte durch die Londoner Innenstadt, ein Lindwurm aus Leibern, Hunderttausende von Menschen stark. Alle vom Wunsch getrieben, einen Blick auf den Sarg ihrer verblichenen Majestät in Westminster Abbey zu werfen. Wobei Blick werfen in diesem Fall wörtlich zu verstehen ist, weil die durchschnittliche Verweildauer vor dem hölzernen Behältnis gerade mal ein paar Sekunden betrug. Zwölf, dreizehn Stunden warten für einen Augenblick, das ist überaus britisch. Wie auch die Tatsache, dass das polizeiliche Schließen der Schlange zu nichts anderem führte als zu einer weiteren Schlange vor dem Original der Schlange. Und also hoben die Behörden das wieder auf, und die Leute schlängelten weiter, immer weiter.
Nun gibt es vermutlich nichts Britischeres als Schlange stehen außer vielleicht britischen Humor, der in diesen Tagen vornehmlich ums Schlange stehen kreist. Es ist nämlich so, dass für diejenigen, die nicht vor Ort sein können und das Defilee verpassen, das Fernsehen das Schlange stehen überträgt und man das Ganze auch im Netz als Live-Tracker verfolgen kann. Worauf eine jüngere Dame twitterte, sie wisse nicht genau, was verrückter sei. In einer Schlange zu stehen, um auf einen Sarg mit Fahne drauf zu gucken. Oder im Fernsehen auf jene Schlange der Leute zu gucken.
Die letzte Reise der Queen: Londoner Innenstadt mutiert zur riesigen Warteschlange

Ein anderer schrieb, falls das in dem schleichenden Tempo weitergehe, würden die Leute statt der Kiste mit den sterblichen Überresten der Queen vermutlich auf Charles Sarg blicken. Two for the price of one, gewissermaßen.
Tee und Kekse
Menschen aus dem Innenleben der Schlange berichteten im Übrigen von tiefer Solidarität beim Austausch von Tee und Keksen und noch größerem Verständnis für die von menschlichen Bedürfnissen Geplagten, die selbstredend kurz austreten und wieder einscheren durften. Ratgeber über die besten Pubs und Klos entlang der “Elizabeth Line“ kursieren unter den Pilgern. Der Poet Brian Bilston schrieb flott ein Gedicht über die Warteschlange mit dem akkuraten Titel “The Queue“. Allein das Wort. Auf das ton- und bedeutungsgebende Q folgt eine Reihe von vier bunt dahinter gewürfelten Vokalen, die sich stumm und artig hintenanstellen. Man braucht sie nicht, aber sie tun verlässlich ihren Dienst wie die Beefeaters vorm Tower.
Auch das: eine semantische Meisterleistung. Queue ist allemal exzentrischer, aufregender als das schnöde amerikanische “line“ oder die reptilienhafte deutsche Äquivalenz.
Die Briten waren stets die inoffiziellen Weltmeister im Schlange stehen. Sie lernen das bereits als Kinder und haben es darin zu unübertroffener Perfektion gebracht. Sie stehen überall geduldig und diszipliniert Schlange. An der Bushaltestelle, vor den Eingängen von Theatern, Kinos, Fußballstadien. Das nistet tief in ihrer DNA wie früher Elfmeter verschießen. George Mikes, der wunderbare Aphorismen-Schöpfer, notierte in seinem Klassiker “How to Be an Alien“ Mitte der 1930-er Jahre, ein richtiger Engländer bilde selbst dann eine Schlange, wenn er alleine sei.
Das mag leicht übertrieben sein, aber nur ein ganz klein wenig. Briten können Schlange. Ausnahmslos.
Niemand drängelt vor
Die etwas schräge Passion der Insel-Bewohner geht nach dem Urteil von Historikern auf die Zeiten der industriellen Revolution zurück, als immer mehr Menschen auf engerem Raum zu leben und sich damit zu arrangieren begannen. Und siehe, sie stellten fest: Die Queue, macht das Miteinander leicht und bekömmlich. Vordrängeln, im Englischen “jumping the queue“ ist seither gesellschaftlich geächtet und in etwa so populär wie Fahrerflucht und Inzest. Wie just zwei Fernsehmoderatoren erfahren durften, die sich an den Wartenden vorbei gemogelt hatten und, wieder draußen, in einen mächtigen Shitstorm gerieten. Wohingegen sich der Fußball-Promi David Beckham ganz vorbildlich wie alle anderen zwölf Stunden durch London schob.
Profi bleibt Profi.
Ethnologisch lässt sich der Vorsprung der Briten in diesen Dingen besonders schön und exemplarisch an Flughäfen beobachten. Sie kämen nie auf die Idee, sofort aufzuspringen sobald ihr Flug aufgerufen wird. Man erkennt sie vielmehr am schlendernden Gang oder daran, dass sie in aller Ruhe ihr Bier und danach noch ein weiteres leeren, während Deutsche bereits hektisch Pässe und Tickets aus Klettverschluss-Taschen nesteln, ständig auf die Uhr schauen – und schließlich eine sinnfreie Schlange bilden. Die Briten reihen sich später lässig, gut gelaunt und angeheitert am Ende ein.
Neue Eilmeldung aus London unterdessen. The Queue wurde soeben mit wahnwitzigen 0,5 Kilometer pro Stunde geblitzt.