Warum ich traurig war, weiß ich nicht mehr genau. Vielleicht, weil mein Magen an den Hot Wings von Kentucky Fried Chicken verzweifelte, vielleicht aber auch, weil neben mir ein kleiner Junge schrie, der sich die Hand im Greifautomaten eingeklemmt hatte, beim Versuch einen Kuschel-Emoji durch die Klappe zu ziehen. Vorhin schrammte eine Frau aus Versehen mit der Handtasche an einem Mercedes entlang, der Besitzer rief ihr laut "Fotze" hinterher. Vor ein paar Minuten flog dann eine Wespe in meinen Cappuccino und ertrank im Milchschaum. Wahrscheinlich ist es für eine Wespe genauso grausam, in Milchschaum zu ertrinken, wie für ein Huhn, in Hot-Wings-Form gestanzt zu werden.
Aber am traurigsten bin ich, weil ich das Gefühl habe, hier festzusitzen. Ich lehne an der Leitplanke, trinke eine Dose Fanta, vor mir surren Autos über die A3. Mittag ist vorbei, aber Nachmittag hat noch nicht angefangen. Das Schild des Autohofs Geiselwind leuchtet den Autofahrern entgegen, verspricht Burger vom König und Benzin von Shell. Darunter steht groß: ERLEBNISRASTHOF. Ich halte das für einen großgeschriebenen Scherz.
Raststätten – Orte, an die man keine Erinnerung aufbewahrt
Wir Deutschen haben spätestens seit dem Nationalsozialismus ein komplexes Verhältnis zur Autobahn. Aber Raststätten? Das sind Orte, an die man keine Erinnerung aufbewahrt. Nun, vielleicht kennt man die mit dem Turm (A5, Taunusblick), oder die mit der Restaurant-Brücke über der Fahrbahn (Dammer Berge A1, Frankenwald A9). Aber sonst erinnern uns nur die gestapelten Sanifair-Gutscheine in der Schreibtischschublade daran, dass wir manchmal auf Raststätten Zeit verbringen.
An der A3 zwischen Würzburg und Nürnberg, Ausfahrt 76, liegt der Autohof Geiselwind. 100.000 Quadratmeter Tanksäule, Wiese, Schnitzel, Asphalt, außenrum Tannenwald. Wenn man von Süden kommt, dann sehen die eng geparkten Lkw-Führerhäuser aus wie Burgzinnen. Ein Tunnel unter der Autobahn führt vom Örtchen Geiselwind hinauf auf den riesigen Parkplatz. McDonald’s, Burger King, KFC, Toni’s Restaurant, ein Hotel, eine Autobahnkirche, ein Kletterpark, eine Halle für Konzerte, sechs Tesla-Ladestationen und ein Erotikkino-Flachbau, der aber nicht zum Autohof gehört. Eine Million Menschen rasten hier im Jahr, trinken Kaffee und wollen ein paar Minuten Ruhe, bevor die Raststätte sie wieder auf die Autobahn spuckt. Hier verbringe ich zwei Tage zwischen Truckern und Tankstelle, um zu sehen, was passiert, wenn man sich nicht wieder auf die Autobahn spucken lässt. Aber an einem Ort, wo alle in Bewegung sind, sollte man nicht stillstehen. Sonst kommen die Schatten.
Toni Strohofer: "König der Trucker"
Am ersten Tag bin ich euphorisch. Ich spaziere von einem Ende zum anderen, was bestimmt 15 Minuten dauert, wenn man gemütlich läuft. 95 Prozent der deutschen Raststätten betreibt die Firma Tank & Rast, die früher dem Staat gehörte und mittlerweile einem Konsortium der Allianz und dem Investmentfonds des Emirats Abu Dhabi.
Der Autohof Geiselwind gehört keinem Scheich, sondern bis vor Kurzem einem König: Toni Strohofer. Wenige Tage nach meinem Besuch verstarb die Raststätten-Legende im Alter von 78 Jahren. Er war Katholik, Franke, ehemaliger Landwirt. Als der Bund in den Sechzigern die A3 von Würzburg nach Nürnberg verlängerte und dafür Asphalt auf das Weizenfeld von Strohofer goss, da meckerte er nicht wie all die anderen Landwirte, sondern baute einen Autohof daneben. Toni’s Restaurant mit dem roten Dach steht in der Mitte, wirbt auf einem Kreideschild für den Brummi-Teller und das Schnitzel aus der Hausmetzgerei. Weil Toni und die Trucker sich verstanden, trug er bald den Titel "König der Trucker" oder "Raststätten-König". Eine Zeit lang floss in keiner Shell-Tankstelle der Welt so viel Benzin wie hier. Toni organisierte Festivals für die Trucker, Konzerte, Motorradshows. Felix Jaehn legte in der Konzerthalle auf, als ihn noch keiner kannte, und Gunter Gabriel spielte Gitarre, als ihn keiner mehr kennen wollte.
Autofahrer, die an einer Raststätte halten, rasten nicht wirklich
Ich stehe also vor Toni’s Restaurant, und die Sonne scheint, als hätte sie selbst noch keine Lust auf Herbst. Ich will mit den Rastenden reden, vielleicht mit ihnen erörtern, warum wir es Sanifair-Klos verdanken, dass wir uns jetzt ohne Angst vor Genitalherpes oder Shigellen auf die Klobrille setzen können. Als ein Mann von der Toilette zu seinem Volvo zurückläuft, gehe ich auf ihn zu, möchte ein kleines Interview führen: Herr Volvo-Fahrer, was verbinden Sie mit dieser Raststätte? Ich sage "Guten Tag" mit bestem Sonnyboy-Lächeln, aber da ist der Volvo-Mann schon durch mich durch transzendiert. Ich kann nicht sagen, ob er rechts oder links an mir vorbeilief. Er schlägt die Autotür zu, startet den Volvo-Motor und hupt, weil ich in seiner Ausparkkamera rot leuchte.
Auch meine nächsten Interview-Versuche scheitern. Autofahrer, die an einer Raststätte halten, rasten nicht wirklich. Sie parken ihr Auto an der Zapfsäule, bezahlen 1,58 Euro für einen Liter Bleifrei, 3,45 Euro für einen kleinen Cappuccino. Dann rauchen sie eine Zigarette, die sie mit Daumen und Zeigefinger halten, damit sie den Stummel schneller wegwerfen können, machen eine Minute lang Dehnbewegungen, ziehen ihr Kind zurück ins Auto, obwohl dem noch die halbe Bockwurst aus dem Mund hängt. So fahren sie weiter, ohne wirklich angehalten zu haben.
Warum fühlen sich die Leute auf der Raststätte so gehetzt? Warum haben sie es so eilig, sich wieder in ihre Autos einzuschließen? Haben sie Angst, dass jemand ihnen das Lyoner-Brot vom Armaturenbrett klaut? Auf der Fahrt schützt ja die Zentralverriegelung gegen alles Fremde. Auf der Raststätte müssen sie ihren sicheren Kokon verlassen.
Als ich mir meine dritte Dose Fanta an der Shell-Tankstelle kaufe, zögert die Verkäuferin und mustert mich. Ein Mensch, der länger als 30 Minuten auf einer Raststätte verbringt, macht sich verdächtig. Der ist entweder Obdachloser, Pädophiler oder: Trucker.
Etwa einhundert Lastwagen parken an diesem Sonntag am höchsten Punkt der Raststätte mit Blick über Autobahn und Wald. Es ist Ruhetag, keiner von ihnen darf fahren. Sie hängen hier fest wie ich. Ein paar Bulgaren kochen über einem Gasbrenner Nudeln oder etwas, das nach Nudeln aussieht, und trinken Dosenbier von Aldi. Daneben steht ein kleiner Mann einsam vor seinem orangefarbenen Mercedes-Lkw. Dünnes Resthaar, 1,70 groß, er rollt schwarzen Van-Nelle-Tabak zu einer Zigarette. An seinen nikotingelben Zähnen und Nägeln kann ich erkennen, dass er den Van-Nelle-Tabak wahrscheinlich seit 30 Jahren raucht.
Mein Leben lang hatte ich Angst vor Lkw-Fahrern
Ich weiß nicht warum, aber irgendwie stelle ich mir vor, dass alle Lkw-Fahrer schlecht riechen, AfD wählen und bei der "Sportschau" nur die Spiele von Schalke 04 anschauen. Ich habe sogar gehört, dass die Autobahnpolizei manchmal aus hohen Wohnmobilen in die Lkw-Kabinen filmt, um zu sehen, ob der Mann hinterm Lenkrad während der Fahrt einen Film schaut, Zigaretten rollt oder onaniert.
Vielleicht habe ich aber deswegen Angst vor den Truckern, weil sie den ganzen Tag in einer Fahrerkabine sitzen. Ein enger Raum kann ja nur schlecht für die Psyche sein.
Ich stecke mir eine Marlboro Light in den Mund und frage den Trucker nach Feuer. "Und, wohin geht’s?", fragt er mich. "Ich bin schon angekommen", sage ich und zeige auf den Asphalt. "Ich bleibe zwei Tage hier, um etwas über Raststätten zu schreiben." Ausgesprochen klingt das noch idiotischer als gedacht. Der Trucker nickt. "Zwei Tage geht ja noch", sagt er. "Einmal habe ich drei Tage hier verbracht, über Ostern", sagt er. Mein Experiment ist für Lkw-Fahrer Alltag.
Der Mann heißt Johann, ist 56 Jahre alt, kommt aus Niederbayern, und weil wir beide von so viel A3 umgeben nicht viel zu tun haben, spazieren wir über den Parkplatz. Johann ist lustig. Sein Humor setzt sich zusammen aus "versauter Bauarbeiter" und "Best-of-Dad-Jokes". Unangenehm mitanzuhören, wenn Leute daneben stehen. Zum Beispiel wenn er beschreibt, wie in der Trucker-Dusche die Schamhaare vom Vorgänger den Abfluss verstopften, also das, was er für Schamhaare hielt. Oder wenn er die Hähnchen-Fastfoodkette "Kentucky schreit ficken" nennt und dann laut über seinen eigenen Witz lacht. Aber ansonsten könnte man Johann einen aufrechten Kerl nennen, der an seinem 19. Geburtstag seine erste Lkw-Ladung fuhr und seitdem nicht aufgehört hat, die Autobahn rauf und runter zu brummen. Er sagt: "Ich bin bestimmt zweihundert Mal um die Welt gefahren, aber gesehen habe ich nichts von ihr."
"Manche Leute haben ihren Stammitaliener, ich habe meinen Stammrasthof"
Dafür kennt Johann jedes Mittagsmenü auf dem Autohof Geiselwind. Er hält hier seit 20 Jahren an, einmal verbrachte er sogar Silvester im Rasthof-Hotel und trank sich vor dem Fernseher mit zwei Sechserträgern Bier ins neue Jahr. Das war nach seiner Scheidung. "Ehe und Lkw-Fahren klappt nur ganz selten", sagt er. Wir setzen uns in Toni’s Restaurant an den Holztisch. An der Decke hängen blumenbemalte Lampen, der Raum riecht angenehm nach Bratfett. Die Kellnerin bringt uns Weizenbier. Johann sagt: "Manche Leute haben ihren Stammitaliener, ich habe meinen Stammrasthof." Er winkt der Kellnerin zu, die geht ohne zurückzuwinken wieder zum Tresen.
Wir bestellen noch mehr Weizenbier, und Johann hört nicht mehr auf zu reden. Er diktiert mir seine Biografie. Unterbrochen durch Einschübe, die mit dem Wort "Früher" anfangen. "Früher, da saßen wir hier mit 30 Mann in der Kneipe. Haben Weizen gekippt und es uns lustig gemacht. Die einzige Regel war: Nicht über Arbeit reden. Wir Trucker verdienen ein bisschen über Mindestlohn, nicht genug, um nach der Arbeit noch über Arbeit zu reden."
Er erzählt, dass ein Trucker-Kumpel von ihm hier in der Autobahnkirche geheiratet hat und danach die Hochzeit mit Schnitzel in Toni’s Restaurant feierte. "Braut und Bräutigam waren beide fett wie Otter, die hatten ihre Hochzeitsnacht auf der Pritsche im Lkw", sagt er und prustet wieder los. Auch diese Ehe habe natürlich nicht gehalten, erzählt er, und weiß nicht genau, ob er weiterlachen soll.
"Die lesen alle morgens die Bild-Zeitung und hetzen dann gegen Flüchtlinge"
Auf einmal kommt einer der Bulgaren in Adidas-Jogginghose in die Gaststube und beginnt mit der Kellnerin über den Preis für einen Putensalat zu diskutieren. Johann beugt sich über den Tisch. Er sagt, dass er ja nichts gegen die ganzen osteuropäischen Fernfahrer habe, nur ärgere es ihn, dass er sich mit denen nicht unterhalten kann. Die sprechen ja kein Englisch. Er im Übrigen auch nicht.
Aber seine deutschen Kollegen möge er genauso wenig, sagt er. "Die lesen alle morgens die Bild-Zeitung und hetzen dann gegen Flüchtlinge", sagt er. "Warum soll ich armer Hans noch ärmeren Menschen irgendwas neiden?" Und ich denke mir: Johann, der so gern "Kentucky schreit ficken" ruft, hat ein reflektierteres Verständnis von Solidarität und Sozialstaat als der deutsche Innenminister.
Viertes Weizen und eine letzte Frage an diesen weisen, versauten Trucker: "Johann, warum fühle ich mich so furchtbar nutzlos, so ziellos, seit ich auf der Raststätte bin?" – "Hm", brummt er, überlegt, bestellt bei der Kellnerin noch ein fünftes Weizen. Dann lehnt er den Kopf zurück gegen die Holzbank und schließt die Augen.
Eine Stunde später sitze ich auf einem Stein neben dem Parkplatz und schaue der Sonne beim Untergehen zu. Die grapefruitroten Wolken hängen tief über dem Rasthof, das Kreuz der Autobahnkirche flimmert in den letzten Sonnenstrahlen. Neben mir fotografiert ein Junge den Sonnenuntergang mit dem iPhone. Dann rennt er zum VW Passat seiner Eltern zurück.
Eigentlich schön, dass Sonnenuntergänge uns Menschen immer noch so überraschen. Dass wir sie fotografieren und anderen Leuten zeigen wollen, obwohl uns die Natur täglich diese Show vorführt. Und wie egal es dem Sonnenuntergang dabei ist, ob er Mittelmeerstrände in Italien ausleuchtet oder den Autohof Geiselwind an der A3.
"Sie sehen so aus, als würden Sie hier nicht wegkommen. Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?"
Plötzlich hält ein Reisebus neben mir an. Das Fenster des Busfahrers surrt herunter, ein Mann mit weißem Haar und grün-schwarz-karierter Krawatte schaut mich freundlich an. "Kommen Sie hier weg?", fragt der Busfahrer. "Wie bitte?" "Sie sehen so aus, als würden Sie hier nicht wegkommen. Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?" "Wohin fahren Sie denn?" "Hamburg", sagt er. Ich schaue in den Bus. Mindestens 40 alte Damen mit Lesebrille und Dauerwelle sitzen in lilafarbenen Stoffsitzen hinter dem Fahrer und schauen mich an.
Das wäre es, die Fahrt zurück nach Hamburg im Luxus-Reisebus, umsorgt von 40 Rentnerinnen, die mir abwechselnd Bienenstich und Kräuterbonbons in den Mund schieben und mich fragen, was ich später mal werden möchte, auch wenn ich ihnen schon zehnmal erklärt haben würde, dass ich bereits einen Beruf habe. Aber zumindest hätte ich dann ein Ziel. Der ganze Sinn der Autobahn ist ja, irgendwo anzukommen. Wer nirgendwo hin möchte oder kann, dem fällt die Decke auf den Kopf. Oder der Geiselwinder Spätsommerhimmel. Der Busfahrer schaut mich an. "Danke", sage ich. "Ich bleibe noch eine Weile."
Diese Geschichte stammt aus der achten Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.